Robert Jordan - Die Jagd beginnt
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»Wir sind des Hornes wegen hier«, sagte Ingtar, »und nicht um irgendwelche Monster der Seanchan anzugaffen. Beschränk dich darauf, Fain aufzuspüren, Hurin.«
Von den Soldaten wurden sie kaum beachtet. Die Straße führte direkt hinunter zu dem kreisförmig angelegten Hafen. Rand erkannte dort unten Schiffe, die vor Anker lagen: große, eckig wirkende Schiffe mit hohen Masten, die auf diese Entfernung wie Spielzeuge wirkten.
»Er war oft hier.« Hurin rieb sich mit dem Handrücken über die Nase. »Die Straße stinkt — da liegt eine Schicht von Gestank über der anderen. Es kann sein, daß er gestern hier war, Lord Ingtar. Vielleicht sogar gestern abend.«
Plötzlich verkrampfte Mat die Hände in das Vorderteil seines Mantels. »Er ist dort drinnen«, flüsterte er. Er wandte sich um und lief ein paar Schritte zurück. Es war das große Gebäude mit der Flagge. »Dort drinnen ist der Dolch. Ich habe ihn zuvor nicht bemerkt — wegen dieser —dieser Biester, aber ich spüre ihn.«
Perrin stieß ihn mit dem Finger in die Rippen. »Hör auf, sonst fragen die sich noch, warum du sie wie ein Blöder anstarrst.«
Rand sah sich um. Der Offizier blickte zu ihnen herüber. Mat wandte sich mürrisch wieder den Gefährten zu. »Sollen wir einfach weitermarschieren? Er ist dort drinnen, sage ich euch!«
»Wir sind hinter dem Horn her«, grollte Ingtar. »Ich muß Fain finden und ihn zwingen, mir zu verraten, wo es ist.« Er verlangsamte seinen Schritt nicht.
Mat sagte nichts darauf, aber sein Gesicht war eine einzige Bitte.
Ich muß Fain auch finden, dachte Rand. Ich muß. Aber nach einem Blick auf Mats Gesicht sagte er: »Ingtar, wenn sich der Dolch dort drinnen befindet, ist wahrscheinlich auch Fain dort. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er sich weit entfernt von Dolch und Horn aufhält.«
Ingtar blieb stehen. Einen Augenblick später sagte er: »Kann sein, aber von hier draußen können wir das nicht feststellen.«
»Wir sollten das Haus beobachten, um zu sehen, ob er herauskommt«, sagte Rand. »Falls er heute früh noch herauskommt, hat er auch dort geschlafen. Und ich wette, dort, wo er schläft, befindet sich auch das Horn. Falls er kommt, können wir um die Mittagszeit wieder bei Verin sein und vor Einbruch der Dunkelheit einen Plan vorbereitet haben.«
»Ich warte nicht auf Verin«, meinte Ingtar. »Und ich warte auch nicht auf die Nacht. Ich will das Horn in Händen halten, bevor die Sonne sinkt.«
»Aber wir wissen doch nichts Genaues, Ingtar.«
»Ich weiß, daß der Dolch hier ist«, sagte Mat.
»Und Hurin sagt, daß Fain gestern abend hier war.« Ingtar winkte Hurins Versuche beiseite, noch etwas dazu zu sagen. »Dies ist das erste Mal, daß du bereit warst, einen näheren Zeitpunkt zu nennen als nur ein oder zwei Tage. Wir werden uns das Horn augenblicklich holen. Jetzt gleich!«
»Wie denn?« fragte Rand. Der Offizier beobachtete sie nicht mehr, aber es standen mindestens zwanzig Soldaten vor dem Gebäude. Und ein Grolm -Paar. Das ist Wahnsinn. Es kann doch hier keine Grolme geben. Aber der Gedanke allein ließ die Biester nicht verschwinden.
»Hinter diesen Häusern scheint es Gärten zu geben«, sagte Ingtar. Er sah sich nachdenklich um. »Falls eine dieser Gassen an einer Gartenmauer entlang verläuft... Manchmal sind die Leute so damit beschäftigt, den Vordereingang zu bewachen, daß sie die Rückseite vernachlässigen. Kommt!« Er ging geradewegs auf die nächste enge Gasse zwischen zwei Häusern zu. Hurin und Mat liefen hinter ihm her.
Rand und Perrin sahen sich in die Augen. Rands breitschultriger Freund zuckte die Achseln, und so folgten sie ebenfalls.
Die Gasse war nicht viel breiter als ihre Schultern, aber sie verlief tatsächlich zwischen hohen Gartenmauern, bis sie eine weitere Gasse kreuzte, die breit genug für eine Schubkarre oder einen Handwagen war. Auch sie war gepflastert, doch ihre Seiten wurden lediglich von den Rückseiten einiger Gebäude gebildet — hohe Steinwände mit lädenverschlossenen Fenstern. Wo sich noch Gartenmauern zeigten, ragten sie hoch auf und wurden nur durch kahle Bäume überragt. Ingtar führte sie durch diese Gasse, bis sie sich der flatternden Fahne gegenüber befanden. Er holte unter seinem Mantel die stahlbewehrten Handschuhe hervor, zog sie an und sprang hinauf. Er konnte sich gerade noch an der Mauerkrone festklammern und zog sich dann hoch, um darüber hinweg zu spähen. Er berichtete mit leiser gleichförmiger Stimme: »Bäume. Blumenbeete. Pfade. Keine Menschenseele zu... Halt! Ein Wächter. Nur ein Mann. Er trägt nicht einmal seinen Helm. Zählt bis fünfzig, und folgt mir dann.« Er schob einen Stiefel über die Mauerkrone und rollte sich hinüber. Er verschwand, bevor Rand nur ein Wort sagen konnte.
Mat zählte langsam. Rand hielt die Luft an. Perrin fühlte nach seiner Axt, und Hurin packte die Griffe seiner Waffen.
»... fünfzig.« Hurin kletterte die Mauer hinauf und verschwand, bevor Mat ausgesprochen hatte. Perrin folgte fast gleichzeitig.
Rand glaubte, daß Mat möglicherweise Hilfe benötigen werde, da er so blaß und angespannt wirkte, doch er zeigte keine Schwäche beim Hinaufklettern. Die Mauer bot genügend Vorsprünge und Grifflöcher, so daß Rand nur wenige Augenblicke später neben Mat, Perrin und Hurin im Garten kauerte.
Der Herbst hatte den Garten fest im Griff. Die Blumenbeete waren bis auf ein paar immergrüne Sträucher leer und die Bäume beinahe kahl. Der Wind, in dem die Fahne flatterte, wirbelte Staub über die geplättelten Gartenwege. Erst konnte Rand Ingtar nicht entdecken. Dann sah er den Schienarer, der sich an die Rückwand des Hauses drückte und ihnen mit dem Schwert in der Hand zuwinkte.
Rand rannte gebückt hinüber. Er nahm eher die Fenster wahr, die ihn vom Haus herunter mit leeren Augen anzustarren schienen, als die Freunde, die neben ihm herrannten. Er war erleichtert, als er sich neben Ingtar an die Hauswand drücken konnte. Mat murmelte in sich hinein: »Er ist da drinnen. Ich fühle ihn.«
»Wo ist der Wächter?« flüsterte Rand. »Tot«, antwortete Ingtar. »Der Mann fühlte sich zu sicher. Er versuchte nicht einmal, um Hilfe zu schreien. Ich habe seine Leiche unter den Büschen versteckt.«
Rand sah ihn mit großen Augen an. Der Seanchan fühlte sich zu sicher? Das einzige, was ihn in diesem Moment vom Zurücklaufen abhielt, war Mats Not.
»Wir sind fast da.« Auch bei Ingtar klang es, als führe er Selbstgespräche. »Beinahe da. Kommt!«
Rand zog sein Schwert, als sie die Hintertreppe hinaufschlichen. Er spürte mehr, als er sah, wie Hurin sein Kurzschwert und den eingedellten Schwertbrecher herauszog und wie Perrin zögernd die Axt aus der Schlinge am Gürtel holte.
Der Flur drinnen war eng. Aus einer halbgeöffneten Tür rechts roch es nach Küche. Mehrere Leute rührten sich dort. Man hörte Stimmengewirr und gelegentlich das leise Klappern eines Deckels. Ingtar bedeutete Mat, die Führung zu übernehmen, und sie schlichen an dieser Tür vorbei. Rand behielt die enge Öffnung im Auge, bis sie um die nächste Ecke waren.
Eine schlanke junge Frau mit dunklem Haar trat aus einer Tür vor ihnen. Sie trug ein Tablett mit einer Tasse. Sie erstarrten alle. Die Frau wandte sich in die andere Richtung, ohne nach hinten zu blicken. Rand riß die Augen auf. Ihr langes weißes Gewand war fast durchsichtig. Sie verschwand um die nächste Ecke.
»Habt ihr das gesehen?« fragte Mat heiser. »Man konnte richtig durch... «
Ingtar legte Mat eine Hand über den Mund und flüsterte: »Haltet Eure Gedanken im Zaum und vergeßt nicht, weswegen wir hier sind. Jetzt sucht es. Sucht das Horn für mich.«
Mat deutete auf eine enge Wendeltreppe. Sie stiegen bis zum nächsten Absatz hinauf, und dann führte er sie in den vorderen Teil des Hauses. In den Fluren standen nur wenige Möbel, und die waren alle abgerundet. Hier und da hing ein Gobelin an der Wand, oder eine Stellwand stand davor, beides meist mit Vögeln auf Ästen oder mit Blumen bemalt. Über eine Stellwand floß ein Strom, aber abgesehen von dem leicht gekräuselten Wasser und engen Uferstreifen war der Hintergrund leer.
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