Min warf ihre halbgegessene Pflaume beiseite, blickte einmal kurz die Straße hinauf und lehnte sich gegen den Türpfosten. Also war alles klar dort oben, denn sonst hätte sie die Hände auf die Knie gelegt. Min rieb sich nun die Hände nervös, und Nynaeve bemerkte, daß Elayne aufgeregt von einem Fuß auf den anderen hüpfte.
Falls sie uns vor lauter Nervosität verraten, bekommt jede eins auf den Schädel von mir. Doch sie wußte, würden sie entdeckt, dann würden die Seanchan darüber entscheiden, was mit ihnen geschehen solle. Sie war sich der Tatsache nur zu bewußt, daß sie keine Ahnung hatte, ob ihr Plan gelingen würde oder nicht. Es könnte auch ihr Fehler sein, wenn sie entdeckt wurden. Noch einmal entschloß sie sich, im Falle ihrer Entdeckung die ganze Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, damit Min und Elayne entkommen konnten. Sie hatte ihnen eingeschärft, falls etwas mißlänge, sollten sie sofort wegrennen, und hatte behauptet, daß auch sie wegrennen werde. Was sie in dem Fall tatsächlich tun würde, war ihr auch nicht klar. Aber ich werde mich nicht lebendig fangen lassen. Bitte, Licht, nur das nicht!
Die Sul'dam und die Damane kamen die Straße herauf und befanden sich jetzt in der Mitte zwischen den drei Frauen. Ein Dutzend Falmer machten wie immer einen großen Bogen um das Paar und waren so nicht im Weg.
Nynaeve steigerte sich in Wut hinein. Frauen an der Leine und Frauen, die andere an der Leine führten. Man hatte ein schmutziges Band um Egwenes Hals gelegt, und das würde man auch mit ihr und Elayne tun, wenn sich die Gelegenheit dazu ergäbe. Sie hatte sich von Min erzählen lassen, wie die Sul'dam den Damane ihren Willen aufzwangen. Sie war sicher, daß ihr Min dabei noch das Schlimmste erspart hatte; aber was sie erzählt hatte, war genug, um Nynaeve in heißen Zorn zu versetzen. Einen Augenblick später hatte sich eine weiße Blüte an einem schwarzen Dornenstrauch dem Licht, Saidar, geöffnet, und die Eine Macht erfüllte sie. Sie wußte, daß sie von einem Glühen umgeben wurde, jedenfalls für diejenigen, die es sehen konnten. Die blasse Sul'dam fuhr zusammen, und die dunkelhaarige Damane öffnete überrascht den Mund, aber Nynaeve ließ ihnen keine Atempause. Sie lenkte nur ein wenig der Macht, aber die knallte wie ein Peitschenhieb auf die beiden nieder.
Das silberne Halsband öffnete sich und klapperte auf die Pflastersteine. Nynaeve seufzte vor Erleichterung und sprang auf.
Die Sul'dam starrte das zu Boden gefallene Halsband an wie eine Giftschlange. Die Damane faßte sich zitternd an den Hals, aber bevor die Frau in dem Kleid mit dem Abzeichen der Blitze Gelegenheit hatte, sich nur zu bewegen, wandte sich die Damane ihr zu und schlug ihr voll ins Gesicht. Die Knie der Sul'dam gaben nach, und sie wäre beinahe gestürzt.
»Das hast du verdient!« schrie Elayne. Auch sie und Min rannten jetzt dorthin, wo die beiden standen.
Bevor allerdings eine von ihnen die beiden Frauen erreichte, sah sich die Damane ängstlich um und rannte weg, so schnell sie konnte.
»Wir tun dir nichts!« rief ihr Elayne nach. »Wir sind Freunde!«
»Sei ruhig!« zischte Nynaeve. Sie zog ein paar Lumpen aus der Tasche und stopfte sie rücksichtslos in den aufgerissenen Mund der immer noch taumelnden Sul'dam.
Min schüttelte schnell den Sack aus, was eine Staubwolke erzeugte, und stülpte ihn der Sul'dam über den Kopf. Sie zog ihn ihr bis zur Hüfte hinunter. »Wir erregen schon zuviel Aufmerksamkeit.«
Das stimmte wohl, aber eben doch nicht in vollem Ausmaß. Die vier standen auf einer Straße, die sich rasch entvölkerte. Die Menschen hatten sich entschlossen, daß es ihnen anderswo besser gefiel. Sie vermieden es, die Frauen anzusehen. Nynaeve hatte sich auf diese Wirkung verlassen und gehofft, auf diese Weise Zeit zu gewinnen. Die Menschen taten alles, um Dinge zu übersehen, die mit den Seanchan zu tun hatten. Sie würden schließlich doch darüber sprechen, aber nur insgeheim. Es konnte noch Stunden dauern, bis die Seanchan davon erfuhren, daß etwas geschehen war.
Die Frau unter dem Sack begann sich zu wehren. Knebelgedämpfte Schreie erklangen, so daß Nynaeve und Min den Sack mit seinem kämpfenden Inhalt umklammerten und in eine nahe Gasse zerrten. Leine und Halsband klapperten hinter ihnen her über die Pflastersteine.
»Heb es auf!« fauchte Nynaeve Elayne an. »Es beißt schon nicht.«
Elayne atmete tief durch und hob die silbrigen Metallutensilien widerwillig auf, als könnten sie wirklich beißen. Nynaeve empfand ein wenig Mitgefühl, doch es kam jetzt darauf an, daß jede ihre Aufgabe erfüllte, wie sie es geplant hatten.
Die Sul'dam trat nach ihnen und versuchte sich freizukämpfen, aber Nynaeve und Min schleiften sie gemeinsam weiter, aus der einen Gasse in eine andere etwas breitere hinter den Häusern und dann wieder durch eine neue bis hin zu einem alten Holzschuppen mit zwei Boxen, in denen wohl einst Pferde gestanden hatten. Seit die Seanchan gekommen waren, konnten sich nur wenige Menschen noch Pferde leisten. Nynaeve hatte einen Tag lang aufgepaßt, aber niemand hatte sich dem Schuppen genähert. Im Inneren lag dicker Staub, und es roch muffig, deutliche Anzeichen dafür, daß man den Schuppen aufgegeben hatte. Sobald sie drinnen waren, ließ Elayne die Silberleine fallen und wischte sich die Hände am Stroh ab.
Nynaeve benützte erneut ein klein wenig der Macht, und das Armband fiel auf den schmutzigen Boden. Die Sul'dam kreischte und warf sich von einer Seite auf die andere.
»Fertig?« fragte Nynaeve. Die anderen beiden nickten, und dann rissen sie den Sack von der Gefangenen.
Die Sul'dam keuchte. Ihre blauen Augen tränten vor Staub, und ihr Gesicht war rot angelaufen, sowohl des Sackes wegen wie auch vor Wut. Sie wollte sofort zur Tür rennen, doch sie fingen sie schon nach einem Schritt ab. Sie war nicht schwach, aber gegen die drei kam sie nicht an. Als sie mit ihr fertig waren, lag sie bis auf die Unterwäsche ausgezogen in einer Box, Arme und Beine waren mit einem festen Strick gebunden, und ein weiterer Strick hielt den Knebel in ihrem Mund fest. Min tupfte ihre geschwollene Lippe ab und betrachtete das Kleid mit den Blitzabzeichen und die Stiefel, die vor ihr lagen. »Das könnte dir passen, Nynaeve. Elayne oder mir paßt es sicher nicht.« Elayne pflückte sich Stroh aus dem Haar.
»Das sehe ich auch. Es war auch nie die Rede von dir. Dich kennen sie zu gut.« Nynaeve zog sich hastig aus. Sie warf ihre Kleidung beiseite und zog das Kleid der Sul'dam über. Min half ihr beim Zuknöpfen.
Nynaeve bewegte die Zehen in den Stiefeln. Sie waren ein wenig zu eng. Auch das Kleid saß über dem Busen etwas zu straff und anderswo war es zu weit. Der Saum schleifte beinahe am Boden, niedriger als bei der Sul'dam, aber bei den anderen hätte es noch auffälliger gewirkt. Sie hob das Armband auf, atmete tief ein und schloß es um den linken Unterarm. Die Enden verschmolzen miteinander, so daß es wie aus einem einzigen Stück gefertigt schien. Es fühlte sich nur wie ein Armband an —nicht mehr. Das hatte sie befürchtet.
»Hol dir das Kleid, Elayne.« Sie hatten zwei Kleider gefärbt — eines von ihren und eins von Elayne —, und zwar in dem Grau, wie es die Damane trugen. Diese Sachen hatten sie hier versteckt. Elayne rührte sich nicht, starrte nur das offene Halsband an und leckte sich die ausgetrockneten Lippen. »Elayne, du mußt es tragen! Zu viele hier kennen Min bereits, als daß sie es tragen könnte. Ich hätte es getragen, wenn dir dieses Kleid passen würde.« Sie befürchtete, sie wäre wohl verrückt geworden, hätte sie dieses Halsband tragen müssen. Deshalb blieb ihre Stimme sanft, als sie jetzt mit Elayne sprach.
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