Sheriam wäre beinahe gestolpert und sah sich schnell um. Elaida war beinahe wieder hinten am Tisch. Die Aes Sedai am Bogenring des Ter'Angreal sahen nur den und nahmen sonst wohl nichts wahr. »Eine unangenehme Sache, über die Ihr nicht reden solltet, Kind«, sagte Sheriam schließlich, und dann noch leiser: »Kommt. Einmal noch.«
»Können sie das fertigbringen?« fragte Egwene.
»Es ist Sitte«, sagte Sheriam, »nicht über das zu sprechen, was innerhalb des Ter'Angreals geschieht. Die Ängste einer Frau gehören ihr selbst.«
»Aber können sie?«
Sheriam seufzte, sah sich wieder nach den anderen Aes Sedai um, senkte die Stimme zum Flüsterton und sprach schnell: »Das wissen nur ganz wenige, Kind, selbst hier in der Burg. Eigentlich solltet Ihr jetzt nicht gerade davon erfahren, am besten überhaupt nicht, aber ich sage es Euch doch. Es gibt eine Schwäche, wenn man die Macht lenken kann. Wir lernen, uns der Wahren Quelle zu öffnen, aber damit öffnen wir uns auch — anderen Dingen.« Egwene schauderte. »Beruhigt Euch, Kind. Das geht nicht so einfach. Es ist, soweit ich weiß, Licht, laß es wahr sein, seit den Trolloc-Kriegen nicht mehr geschehen. Sie brauchten dazu dreizehn Schattenlords — Schattenfreunde, die die Macht benützen können —, die wiederum den Fluß der Macht durch dreizehn Myrddraal lenkten. Seht Ihr? Das geht wirklich nicht so einfach. Heutzutage gibt es keine Schattenlords mehr. Das ist ein Geheimnis der Burg, Kind. Wenn andere das wüßten, könnten wir sie bestimmt nicht mehr davon überzeugen, daß sie bei uns sicher sind. Nur eine, die die Macht lenken kann, kann auf diese Art umgedreht werden. Die eine Schwäche bei all unserer Stärke. Alle anderen sind so sicher wie eine Festung; nur ihre eigenen Taten oder ihr Wille können sie zum Schatten hinführen.«
»Dreizehn«, sagte Egwene mit ganz kleiner Stimme. »Die gleiche Anzahl hat die Burg verlassen. Liandrin und zwölf andere.«
Sheriams Gesichtszüge verhärteten sich. »Das ist nichts, was Ihr jetzt im Kopf haben solltet. Ihr werdet das wieder vergessen!« Ihre Stimme normalisierte sich. »Das dritte Mal ist für das, was sein wird. Der Weg zurück erscheint nur einmal. Seid standhaft.«
Egwene sah den glühenden Bogen an und blickte hindurch in die Ferne. Liandrin und zwölf andere. Dreizehn Schattenfreunde, die mit der Macht umgehen können. Licht, hilf uns allen. Sie trat in das Licht hinein. Es erfüllte sie. Es schien durch sie hindurch. Es verbrannte sie bis auf die Knochen, sengte hinein bis zu ihrer Seele. Brennend flammte sie auf in diesem Licht. Licht, hilf mir! Es gab nichts als das Licht. Und den Schmerz.
Egwene blickte in den hohen Standspiegel und war nicht sicher, worüber sie mehr überrascht sei: die alterslose Glätte ihrer Gesichtshaut oder die gestreifte Stola, die um ihren Hals hing. Die Stola der Amyrlin.
Der Weg zurück erscheint nur einmal. Seid standhaft. Dreizehn.
Sie schwankte, griff hilfesuchend nach dem Spiegel und hätte ihn beinahe noch mitgerissen auf den blau gekachelten Boden ihres Ankleideraums. Etwas stimmt nicht, dachte sie. Das hatte aber nichts mit ihrem plötzlichen Schwindelgefühl zu tun, oder zumindest war es nicht das, was sie so beunruhigte. Es war etwas anderes. Doch sie hatte keine Ahnung, was es sein könnte.
An ihrer Seite stand eine Aes Sedai, eine Frau mit Sheriams hohen Backenknochen, aber dunklem Haar und besorgten braunen Augen. Sie trug die handbreite Stola der Behüterin auf den Schultern. Es war aber nicht Sheriam. Egwene hatte sie noch nie zuvor gesehen, doch sie war sicher, sie genausogut zu kernen wie sich selbst. Zögernd verlieh sie der Frau einen Namen: Beldeine.
»Seid Ihr krank, Mutter?«
Ihre Stola ist grün. Das bedeutet, sie wurde aus den Reihen der Grünen Ajah erhoben. Die Behüterin der Chronik kommt immer aus der gleichen Ajah wie die Amyrlin, der sie dient. Das bedeutet: Wenn ich die Amyrlin bin — falls? — dann war ich auch eine Grüne Ajah. Der Gedanke rüttelte sie auf. Nicht, daß sie eine Grüne gewesen war, sondern, daß sie das erst herausfinden mußte. Licht, mit mir stimmt wirklich etwas nicht.
Der Weg zurück erscheint nur... Die Stimme in ihrem Kopf verklang zu einem bloßen Summen.
Dreizehn Schattenfreunde. »Mir geht es gut, Beldeine«, sagte Egwene. Der Name klang eigenartig aus ihrem Mund. Es war, als habe sie ihn schon jahrelang benützt. »Wir dürfen sie nicht warten lassen.« Wen warten lassen? Sie wußte es nicht, nur daß sie unendlich traurig darüber war, das Warten zu beenden, unendlich widerwillig.
»Sie werden bestimmt ungeduldig, Mutter.« In Beldeines Stimme lag ein gewisses Zögern, als habe sie die gleichen Hemmungen wie Egwene, aber aus einem anderen Grund. Wenn sich Egwene nicht gewaltig irrte, hatte Beldeine trotz all ihrer äußerlichen Ruhe furchtbare Angst.
»In diesem Fall sollten wir uns beeilen.«
Beldeine nickte und atmete dann tief durch, bevor sie über den Teppich hin zu der Stelle schritt, wo sie ihren Amtsstab mit der schneetropfenförmigen Flamme von Tar Valon neben die Tür gelehnt hatte. »Ich glaube auch, es muß sein, Mutter.« Sie nahm den Stab in die Hand und öffnete die Tür für Egwene. Dann eilte sie voran. Es war wie eine Prozession von zweien. Die Behüterin der Chronik führte die Amyrlin.
Egwene sah nicht viel von den Gängen, die sie durchschritten. Ihre gesamte Aufmerksamkeit war nach innen gerichtet. Was ist mit mir los? Warum kann ich mich an nichts erinnern? Warum stimmt so vieles an dem nicht, woran ich mich... beinahe erinnere? Sie berührte die Stola mit den sieben Streifen auf ihren Schultern.
Wieso bin ich beinahe sicher, noch Novizin zu sein?
Der Weg zurück erscheint nur... Diesmal endete es mit einem Schlag.
Dreizehn Schwarze Ajah.
Darüber stolperte sie. Es war an sich schon ein furchteinflößender Gedanke, doch er ließ sie bis ins Mark hinein vor Angst erstarren. Das war mehr. Es war — persönlich. Sie wollte schreien, wegrennen, sich verstecken. Sie hatte das Gefühl, alle seien hinter ihr her. Unsinn. Die Schwarzen Ajah wurden vernichtet. Auch das erschien ihr eigenartig. Ein Teil von ihr erinnerte sich an etwas, das man die Große Säuberung nannte. Ein anderer Teil ihrer selbst war sicher, daß es so etwas nie gegeben hatte.
Mit starr nach vorn gerichtetem Blick ging Beldeine voran. Sie hatte ihr Stolpern nicht bemerkt. Egwene machte längere Schritte, um wieder aufzuholen. Diese Frau ist durch und durch verängstigt. Licht, wohin bringt sie mich?
Beldeine blieb vor einer großen Doppeltür stehen, die auf jeder Seite im dunklen Holz eingelassen die große, silberne Flamme von Tar Valon aufwies. Sie wischte sich die Hände am Kleid ab, als schwitze sie mit einem Mal, und dann öffnete sie den einen Türflügel und führte Egwene eine gerade Rampe hinauf, die aus dem gleichen silbergeäderten Stein bestand wie die Mauer von Tar Valon. Selbst hier drinnen schien er zu leuchten.
Die Rampe führte hinauf in einen großen, kreisförmigen Saal unter einer mindestens dreißig Schritt hohen Kuppeldecke. An der Außenseite entlang zog sich ein Podest, zu dem Stufen von innen hinaufführten. Die Stufen wurden nur in gleichmäßigem Abstand von drei solchen Rampen unterbrochen. Die Flamme von Tar Valon war im Mittelpunkt im Boden eingelassen und wurde von spiralförmigen Farbstreifen in den Farben der sieben Ajahs umspannt. Gegenüber der Rampe stand ein Stuhl mit hoher Lehne, schwer und mit Ranken und Blättern reich beschnitzt und in den Farben aller Ajahs bemalt.
Beldeine klopfte mit ihrem Stab hart auf den Boden. Ihre Stimme bebte ein wenig. »Sie kommt. Die Hüterin der Siegel. Die Flamme von Tar Valon. Der Amyrlin-Sitz. Sie kommt.«
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