»Verzeiht, Sheriam Sedai«, sagte sie schnell, knickste vor ihr und warf sich gleichzeitig den Umhang über. »Das alles... einen toten Mann zu entdecken... einen... einen Grauen Mann! — das hat mich frieren lassen. Können wir jetzt gehen?«
Sheriam nickte kurz und Nynaeve machte ihren üblichen sehr kurz angebundenen Knicks. Egwene packte sie am Arm und zog sie weg.
»Willst du uns noch mehr Schwierigkeiten einhandeln?« fragte sie zwei Ebenen weiter unten. Sie befanden sich außer Hörweite von Sheriam, hoffte sie jedenfalls. »Was hast du noch zu ihr gesagt, daß sie so böse dreinschaute? Noch mehr Fragen, schätze ich! Ich hoffe, du hast etwas erfahren, was ihren Zorn auf uns wert war!«
»Sie hat gar nichts gesagt«, knurrte Nynaeve. »Wir müssen Fragen stellen, wenn wir etwas ausrichten wollen, Egwene. Es ist ein wenig Risiko wert, denn sonst erfahren wir überhaupt nichts.«
Egwene seufzte. »Na ja, aber sei ein bißchen verbindlicher dabei!« Nach Nynaeves Gesichtsausdruck zu schließen, hatte sie nicht die Absicht, verbindlicher zu werden oder Risiken aus dem Weg zu gehen. Egwene seufzte noch einmal. »Der Armbrustbolzen war weg, Nynaeve. Er muß von einem anderen Grauen Mann entfernt worden sein.«
»Deshalb bist du also... Licht!« Nynaeve runzelte die Stirn und riß wieder an ihrem Zopf.
Nach einer Weile sagte Egwene: »Was war denn das, womit sie die... den Körper verdeckt hat?« Sie vermied es, noch einmal an die Bezeichnung Grauer Mann zu denken. Das erinnerte sie zu sehr daran, daß draußen noch einer von der Sorte lauerte. Eigentlich wollte sie am liebsten an gar nichts denken.
»Luft«, erwiderte Nynaeve. »Sie benützte ganz einfach Luft dazu. Eine saubere Sache. Ich glaube, ich weiß, wie man sich das zunutze machen kann.«
Der Gebrauch der Einen Macht unterlag den fünf Elementen: Erde, Luft, Feuer, Wasser und Geist. Verschiedenartige Talente erforderten auch unterschiedliche Kombinationen dieser Elemente. »Ich verstehe einiges daran nicht, wie man die Fünf Elemente kombiniert. Nimm zum Beispiel die Heilung von Krankheiten oder Verletzungen. Klar, daß man dazu den Geist benötigt und vielleicht auch die Luft, aber warum das Wasser?«
Nynaeve fuhr sie an: »Was quatschst du denn da laut aus? Hast du vergessen, was wir tun müssen?« Sie sah sich um. Sie hatten die Quartiere der Aufgenommenen erreicht, die einige Galerien tiefer lagen als die der Novizinnen. Sie waren von einem Garten umgeben. Es war nur eine andere Aufgenommene zu sehen, die auf einer anderen Ebene weitereilte, doch sie senkte die Stimme: »Hast du die Schwarzen Ajah vergessen?«
»Ich versuche jedenfalls, sie zu vergessen«, sagte Egwene erhitzt. »Eine Weile lang wenigstens. Ich versuche auch, zu vergessen, daß wir gerade einen toten Mann zurückgelassen haben. Ich versuche, zu vergessen, daß er mich beinahe getötet hätte und daß er einen Gefährten hat, der das vielleicht noch einmal versuchen wird.« Sie berührte ihr Ohr. Der Blutstropfen war getrocknet, aber die Schramme schmerzte noch. »Wir hatten Glück, daß wir nicht beide jetzt tot sind.«
Nynaeves Gesichtsausdruck besänftigte sich, und als sie weitersprach, klang es ein wenig wie bei der Seherin von Emondsfeld, wenn sie jemanden beruhigen mußte. »Behalte diese Leiche gut in Erinnerung, Egwene. Denke daran, daß er dich töten wollte. Uns töten wollte. Denke auch immer an die Schwarzen Ajah. Die ganze Zeit über mußt du das im Hinterkopf behalten. Denn wenn du nur einmal nicht daran denkst, kann es bereits im nächsten Moment zu spät sein, und du bist tot.«
»Ich weiß«, seufzte Egwene. »Aber es muß mir ja nicht auch noch gefallen.«
»Hast du bemerkt, was Sheriam nicht erwähnt hat?«
»Nein. Was?«
»Sie hat überhaupt nicht danach gefragt, wer ihn wohl erdolcht hat. Also, komm jetzt. Mein Zimmer ist gleich dort drüben, und wenn wir uns drinnen weiter unterhalten, kannst du wenigstens die Füße hochlegen.«
Nynaeves Zimmer war um einiges größer als die Zimmer der Novizinnen. Sie hatte ein richtiges Bett darin und nicht eine in die Wand eingebaute Koje, zwei Lehnstühle statt eines Hockers und einen Kleiderschrank. Die Möbel waren schlicht wie in einem besseren Bauernhaus, aber verglichen mit der Einrichtung bei den Novizinnen waren die Aufgenommenen von Luxus umgeben. Es gab sogar einen kleinen Teppich, der auf blauem Untergrund gelbe und rote Runenmuster aufwies. Das Zimmer war aber nicht leer, als Egwene und Nynaeve eintraten.
Elayne stand vor dem Kamin und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Ihre Augen waren gerötet, und das offensichtlich zumindest teilweise vor Zorn. Zwei hochgewachsene junge Männer saßen auf den Lehnstühlen. Einer hatte seinen dunkelgrünen Mantel geöffnet, so daß sein schneeweißes Hemd sichtbar war. Seine Augen waren genauso blau wie die Elaynes und sein Haar genauso rotblond. Auch sein grinsendes Gesicht wies ihn ganz klar als Elaynes Bruder aus. Der andere, etwa gleich alt wie Nynaeve und mit einem grauen, ordentlich zugeknöpften Mantel angetan, war gertenschlank und hatte dunkles Haar und ebenso dunkle Augen. Er erhob sich mit einer fließend eleganten Bewegung und offensichtlich großem Selbstvertrauen, als Egwene und Nynaeve eintraten. Egwene konnte sich nicht helfen, aber sie hielt ihn für den bestaussehenden Mann, den sie jemals kennengelernt hatte. Er hieß Galad.
»Es ist schön, Euch wiederzusehen«, sagte er und nahm ihre Hand in die seine. »Ich habe mir Euretwegen Sorgen gemacht. Wir waren sehr besorgt.«
Ihr Pulsschlag beschleunigte sich, und sie zog schnell ihre Hand zurück, bevor er es bemerkte. »Danke, Galad«, murmelte sie. Licht, sieht der gut aus! Sie sagte sich, daß sie aufhören müsse, an ihn zu denken. Das war nicht leicht. Statt dessen ertappte sie sich dabei, wie sie ihr Kleid glattstrich und sich wünschte, es wäre aus Seide anstelle dieser einfachen Wolle — vielleicht eines dieser Domani-Kleider, von denen Min ihr erzählt hatte, die so dünn und anschmiegsam waren, daß man glaubte, sie seien durchsichtig, auch wenn das gar nicht der Fall war. Sie errötete heftig und verbannte die Vorstellung aus ihrem Geist. Sie hoffte, er werde ihr Erröten nicht bemerken. Es half nichts, daß die Hälfte aller Frauen in der Burg — von den Küchenmädchen bis hin zu den Aes Sedai selbst — ihn auf genau die gleiche Weise angafften. Es half auch nichts, daß sein Lächeln wirkte, als sei es nur für sie allein bestimmt. Das machte die Dinge nur noch schlimmer. Licht, wenn er auch nur ahnt, was ich denke, sterbe ich auf der Stelle!
Der goldhaarige junge Mann beugte sich auf seinem Stuhl vor. »Die Frage ist nur, wo habt ihr gesteckt? Elayne weicht meinen Fragen aus, als habe sie die Taschen voller Feigen und wolle mir keine abgeben.«
»Ich habe es dir doch gesagt, Gawyn«, sagte Elayne genervt. »Es geht dich nichts an. Ich bin hierhergekommen«, fuhr sie zu Nynaeve gewandt fort, »weil ich nicht allein sein wollte. Sie sahen mich und folgten mir einfach. Sie akzeptieren einfach kein Nein.«
»Anscheinend nicht«, bemerkte Nynaeve trocken.
»Aber es geht uns etwas an, Schwester«, sagte Galad.
»Deine Sicherheit geht uns sogar sehr viel an.« Er sah Egwene dabei an, und sie fühlte, wie ihr Herz höher schlug. »Eure Sicherheit ist für mich sehr wichtig. Für uns.«
»Ich bin nicht deine Schwester«, fauchte ihn Elayne an.
»Wenn ihr Gesellschaft braucht«, sagte Gawyn lächelnd zu Elayne, »sind wir ja wohl gut genug. Und nach allem, was wir durchgemacht haben, um überhaupt hier sein zu können, verdienen wir auch eine Erklärung, wo ihr gewesen seid. Ich lasse mich lieber den ganzen Tag lang von Galad über das Übungsgelände scheuchen, als Mutter eine einzige Sekunde lang gegenüberzustehen. Mir ist noch lieber, wenn Coulin wütend auf mich ist.« Coulin war der Waffenmeister und brachte den jungen Männern, die in die Burg kamen, um sich von ihm ausbilden zu lassen, strengste Disziplin bei, gleich, ob sie nun Behüter werden wollten oder nur von ihnen lernen.
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