Ich kann lernen, dachte Egwene. Meine eigenen Studiengebiete wählen. Ich kann etwas über die Träume in Erfahrung bringen, und...
Das Lächeln der Amyrlin unterbrach ihren Gedankengang. Dieses Lächeln sagte ihnen, daß nichts von all dem schlimmer als unbedingt notwendig sein würde, falls sie das überlebten. Nynaeves Gesicht zeigte eine Mischung von tiefer Anteilnahme und der erschreckenden Erinnerung an ihre eigenen ersten Wochen als Aufgenommene. Diese Mischung ließ Egwene dann doch schwer schlucken. »Nein, Mutter«, sagte sie mit versagender Stimme. Elaynes Antwort kam als heiseres Flüstern.
»Dann wäre das also erledigt. Eure Mutter war nicht gerade über Euer Verschwinden erfreut, Elayne.«
»Weiß sie davon?« quiekte Elayne.
Leane schniefte, und die Amyrlin zog eine Augenbraue hoch. Dann sagte sie: »Ich konnte es wohl kaum vor ihr verbergen. Ihr habt sie um weniger als einen Monat verfehlt, was vielleicht auch besser für Euch war. Dieses Zusammentreffen hättet Ihr möglicherweise nicht überlebt. Sie war wütend genug auf mich, auf Euch, auf die Weiße Burg, um ein Ruder durchzubeißen.«
»Ich kann es mir vorstellen, Mutter«, sagte Elayne mit schwacher Stimme.
»Das glaube ich nicht, Kind. Ihr habt vielleicht eine Tradition beendet, die schon da war, bevor es Andor überhaupt gab. Eine Sitte, die stärker als jedes Gesetz war. Morgase weigerte sich, Elaida mit zurückzunehmen. Zum erstenmal überhaupt hat die Königin von Andor keine Ratgeberin aus den Reihen der Aes Sedai. Sie verlangte, daß man Euch bei Eurem Auftauchen umgehend nach Caemlyn zurückbringt. Ich überzeugte sie, daß es ein wenig sicherer sei, Euch hier noch ein bißchen länger auszubilden. Sie war auch bereit, Eure beiden Brüder aus ihrer Ausbildung bei den Behütern abzuziehen. Sie haben sie aber selbst von deren Notwendigkeit überzeugt. Ich weiß noch immer nicht, wie sie das angestellt haben.«
Elayne schien in sich hineinzulauschen. Sie stellte sich vielleicht Morgase in all ihrer Wut vor. Sie schauderte. »Gawyn ist mein Bruder«, sagte sie abwesend. »Galad nicht.«
»Seid nicht so kindisch«, sagte die Amyrlin zu ihr. »Wenn Ihr denselben Vater habt, seid Ihr auch Geschwister, ob Ihr ihn leiden könnt oder nicht. Ich werde solche kindischen Anwandlungen bei Euch nicht zulassen, Mädchen. Ein gewisses Maß an Dummheit kann ja von einer Novizin erwartet werden, aber bei einer Aufgenommenen nicht mehr.«
»Ja, Mutter«, antwortete Elayne niedergeschlagen.
»Die Königin hat bei Sheriam einen Brief für Euch hinterlassen. Davon abgesehen, daß sie Euch die Meinung sagen wird, dürfte sie wohl auch ihre Absicht kundtun, Euch so schnell wie möglich nach Hause zu bringen, jedenfalls, sobald es sicher genug ist. Sie glaubt, daß Ihr in längstens ein paar Monaten in der Lage seid, die Macht zu lenken, ohne Euch dabei umzubringen.«
»Aber ich will weiter lernen, Mutter.« In Elaynes Stimme war die eiserne Entschlossenheit zurückgekehrt. »Ich will Aes Sedai werden.«
Das Lächeln der Amyrlin wirkte noch grimmiger als zuvor. »Das solltet Ihr auch besser, Kind, denn ich habe nicht die Absicht, Euch Morgase zu überlassen. Ihr habt das Potential, stärker zu werden als jede andere Aes Sedai in den letzten tausend Jahren, und ich lasse Euch nicht eher gehen, bis Ihr zu dem Ring auch die Stola tragt. Und wenn ich Euch dabei zu Wurst verarbeiten muß. Ich lasse Euch nicht gehen! Ist das klar?«
»Ja, Mutter.« Elayne klang unsicher, und Egwene konnte ihr das nicht verdenken. Zwischen Morgase und der Weißen Burg zu stehen war so, als würde man zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben. Die Königin von Andor und der Amyrlin-Sitz als Gegner! Falls Egwene Elayne jemals um ihren Reichtum und den Thron beneidet hatte, den sie einmal erben würde, dann tat sie es jetzt ganz gewiß nicht.
Die Amyrlin sagte knapp: »Leane, bringt Elayne hinunter zu Sheriams Arbeitszimmer. Ich muß mit den anderen beiden hier noch ein Wörtchen reden. Sie werden aber bestimmt wenig Freude daran haben.«
Egwene und Nynaeve sahen sich erstaunt an. Einen Augenblick lang ließ die Sorge die Anspannung zwischen ihnen verschwinden. Was will sie uns sagen, aber Elayne nicht? fragte sich Egwene. Aber es ist gleich, solange sie mich nicht vom Lernen abhält. Doch warum kann sie es Elayne nicht auch sagen?
Elayne schnitt eine Grimasse, als das Arbeitszimmer der Rektorin erwähnt wurde, aber sie richtete sich stolz auf. Leane trat an ihre Seite. »Wie Ihr befehlt, Mutter«, sagte Elayne höflich, knickste tief, so daß ihr Rock den Boden fegte, und fuhr fort: »So werde ich also gehorchen.« Sie folgte Leane mit hoch erhobenem Kopf hinaus.
Die Amyrlin sagte zunächst nichts. Sie ging zu den hohen Bogenfenstern hinüber und blickte über den Balkon hinweg in den darunterliegenden Garten. Die Hände hatte sie auf dem Rücken gefaltet. Minuten vergingen, bevor sie wieder etwas sagte, wobei sie den beiden immer noch den Rücken zuwandte.
»Ich habe dafür gesorgt, daß die schlimmsten Dinge nicht bekannt wurden, doch wie lange kann man das geheimhalten? Die Dienerinnen wissen nichts von den gestohlenen TerAngreal, und sie bringen auch die Toten nicht mit der Abreise oder Flucht Liandrins und der anderen in Verbindung. Das war nicht leicht zu erreichen bei dem Klatsch unter der Dienerschaft. Sie glauben, Schattenfreunde hätten die Morde begangen. Und das stimmt ja sogar. Aber die Gerüchte erreichen auch die Stadt. Daß Schattenfreunde in die Burg eindringen und Morde begehen konnten. Das war nicht zu verhindern. Es verbessert unseren Ruf nicht gerade, ist aber immer noch besser als die Wahrheit. Wenigstens weiß niemand außerhalb der Burg, und auch nur wenige innerhalb, daß Aes Sedai getötet wurden. Schattenfreunde in der Weißen Burg. Pah! Ich habe mein ganzes bisheriges Leben damit verbracht, das abzuleugnen. Ich lasse das nicht zu. Ich werde sie ködern und ausnehmen und zum Trocknen an die Sonne hängen!«
Nynaeve sah Egwene unsicher an. Die fühlte sich aber noch viel weniger wohl in ihrer Haut. Dann holte Nynaeve tief Luft. »Mutter, sollen wir noch weiter bestraft werden, außer dem, was Ihr uns bereits gesagt habt?«
Die Amyrlin blickte sie über die Schulter hinweg an. Ihre Augen lagen im Schatten verborgen. »Euch noch weiter bestrafen? Das könnte man beinahe sagen. Einige werden meinen, ich hätte euch etwas geschenkt, euch erhoben. Jetzt werdet ihr bei dieser Rose den Stich der Dornen erst wirklich zu spüren bekommen.«
Sie ging mit schnellen Schritten zu ihrem Stuhl hinüber und setzte sich. Dann schien ihre Eile wieder verflogen zu sein. Und ihre Unsicherheit hatte wohl zugenommen.
Die Amyrlin unsicher dreinblicken zu sehen ließ Egwenes Magen brennen. Die Amyrlin war immer ruhig und ging voller Sicherheit ihren Weg. Die Amyrlin war die menschgewordene Stärke. Gegenüber all ihrer noch ungeschulten Macht besaß die Frau auf der anderen Seite des Tisches ein Wissen und eine Erfahrung, die ihr erlaubt hätten, sie um eine Spindel zu wickeln. Sie so plötzlich schwankend zu erleben — wie ein Mädchen, das wußte, sie mußte mit einem Kopfsprung in einen Teich eintauchen, von dem sie aber nicht wissen konnte, wie tief er war und ob auf seinem Grund Steine lagen — sie so zu erleben trieb Egwene einen eisigen Schreck bis ins Herz. Was meint sie mit dem Stich der Dornen? Licht, was will sie mit uns machen?
Die Amyrlin befühlte ein geschnitztes, schwarzes Holzkästchen, das vor ihr auf dem Tisch stand, und blickte darauf, als sehe sie durch es hindurch etwas ganz anderes. »Es fragt sich, wem ich vertrauen kann«, sagte sie leise. »Ich sollte eigentlich wenigstens Leane und Sheriam vertrauen können. Aber kann ich mich darauf verlassen? Verin?« Ihre Schultern bebten in einem kurzen, lautlosen Lachen. »Ich vertraue Verin bereits mehr als mein Leben an, aber wie weit kann ich das noch treiben? Moiraine?« Sie schwieg einen Moment lang. »Ich habe immer geglaubt, daß ich Moiraine vertrauen kann.«
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