Nur wenige andere Frauen waren zu sehen. Hier und da schritt majestätisch eine Aes Sedai durch die Gänge und hatte keine Zeit, Aufgenommene oder Novizinnen überhaupt zu bemerken. Fünf oder sechs Aufgenommene gingen wichtigtuerisch ihren Beschäftigungen oder Studien nach. Eine kleine Anzahl von Dienerinnen huschte mit Tabletts oder Besen oder mit ganzen Armladungen von Papieren oder Handtüchern vorbei. Ein paar Novizinnen eilten noch schneller als die Dienerinnen einher, um ihre Aufgaben zu erledigen.
Nynaeve und ihre Begleiterin mit dem schlanken, langen Hals — Theodrin — schlossen sich ihnen an. Keine sprach ein Wort. Nynaeve trug wieder das Kleid einer Aufgenommenen mit den sieben farbigen Bändern am Saum, aber Gürtel und Gürteltasche waren ihre eigenen. Sie lächelte Egwene und Elayne beruhigend zu und umarmte sie kurz. Egwene war so froh, ein anderes freundliches Gesicht zu sehen, daß sie die Umarmung erwiderte, ohne auf die Idee zu kommen, daß Nynaeve sich verhielt, als müsse sie Kinder beruhigen. Doch beim Weitergehen zupfte Nynaeve von Zeit zu Zeit hart an ihrem dicken Zopf.
In diesen Teil der Burg verirrten sich nur wenige Männer. Egwene sah lediglich zwei: Behüter, die ins Gespräch vertieft Seite an Seite den Gang hinunterschritten. Der eine trug sein Schwert an der Hüfte, der andere auf dem Rücken. Einer war klein und schlank, sogar beinahe zierlich, während der andere fast so breit wie groß war. Doch beide bewegten sich mit einer tödlichen Eleganz. Durch ihre farbverändernden Umhänge war es schwer, sie längere Zeit über zu beobachten. Teile ihrer Gestalten verschwammen gelegentlich mit den Wänden, vor denen sie entlangkamen. Sie sah, wie Nynaeve ihnen nachblickte, und schüttelte den Kopf. Sie muß etwas in bezug auf Lan unternehmen. Falls eine von uns nach dem heutigen Tag in der Lage ist, irgend etwas in bezug auf irgend jemanden zu unternehmen.
Das Foyer, durch das man zum Arbeitszimmer der Amyrlin gehen mußte, war prächtig genug für einen Palast, obwohl die im Raum verteilten Stühle für die Wartenden ganz einfach waren. Doch Egwene hatte nur Augen für Leane Sedai. Die Behüterin trug die schmale Stola, die ihrem Amt zustand — blau, weil sie der Blauen Ajah entstammte —, und ihr Gesicht schien wie aus glattem, braunem Stein gemeißelt. Sonst befand sich niemand im Foyer.
»Haben sie irgendwelche Schwierigkeiten gemacht?« Aus dem abgehackten Tonfall der Behüterin konnte man weder Zorn noch Anteilnahme entnehmen.
»Nein, Aes Sedai«, sagten Theodrin und die Aufgenommene mit den Apfelbäckchen wie aus einem Munde.
»Die hier mußte ich beinahe an den Haaren herbeizerren, Aes Sedai«, sagte Faolain und deutete auf Egwene. Die Aufgenommene klang erzürnt. »Sie ziert sich, als habe sie alle Disziplin vergessen, die in der Weißen Burg gelehrt wird.«
»Menschen zu führen«, sagte Leane, »bedeutet, sie weder zu schubsen noch zu zerren. Geht zu Marris Sedai, Faolain, und bittet sie um Erlaubnis, darüber nachzudenken, während Ihr die Wege im Frühlingsgarten mit dem Rechen glättet.« Damit entließ sie Faolain und die beiden anderen Aufgenommenen, die vor ihr tief knicksten. Von unten her warf Faolain Egwene einen haßerfüllten Blick zu.
Die Behüterin der Chronik achtete nicht mehr auf die drei Aufgenommenen. Statt dessen musterte sie die drei Frauen, die vor ihr standen, tippte sich mit dem Zeigefinger nachdenklich auf die Lippen, bis Egwene das Gefühl hatte, sie habe sie von innen nach außen gekehrt und auf Herz und Nieren überprüft. Nynaeves Augen glitzerten gefährlich, und sie hielt ihren Zopf mit einer Hand fest gepackt.
Schließlich deutete Leane mit einer Hand auf die Tür zum Arbeitszimmer der Amyrlin. Auf jedem Türflügel biß sich die Große Schlange, in dunkles Holz geschnitzt, in den eigenen Schwanz. Die Schnitzereien maßen fast einen Schritt im Durchmesser. »Tretet ein«, sagte sie.
Nynaeve trat sofort vor und öffnete die Tür. Das reichte, damit sich auch Egwene in Bewegung setzte. Elayne hielt Egwenes Hand ängstlich fest, und Egwene drückte genauso fest zurück. Leane ging hinter ihnen mit hinein und stellte sich so hin, daß sie an der Seite, halbwegs zwischen den dreien und dem Tisch in der Mitte des Zimmers stand.
Die Amyrlin saß hinter dem Tisch und las in irgendwelchen Papieren. Sie blickte nicht auf. Einmal öffnete Nynaeve den Mund, schloß ihn aber auf einen scharfen Blick der Behüterin hin wieder. Die drei standen nebeneinander vor dem Schreibtisch der Amyrlin und warteten. Egwene bemühte sich, ruhig dazustehen. Minuten vergingen, die ihnen wie Stunden vorkamen, bevor die Amyrlin den Kopf hob, aber als diese blauen Augen eine nach der anderen musterten, hätte Egwene am liebsten noch länger gewartet. Die Augen der Amyrlin schienen sich wie zwei Eiszapfen in ihr Herz zu bohren. Im Zimmer war es kühl, doch ihr lief der Schweiß den Rücken hinunter.
»Aha!« sagte die Amyrlin schließlich. »Unsere Ausreißerinnen sind wieder da.«
»Wir sind nicht weggerannt, Mutter.« Nynaeve bemühte sich ganz offensichtlich, Ruhe zu bewahren, aber ihre Stimme war emotionsgeladen. Zorn, das wußte Egwene. Dieser ausgeprägte Wille machte sich nur zu oft Luft. »Liandrin sagte uns, wir sollten mitkommen, und... « Das laute Klatschen, als die Amyrlin mit der Hand auf den Tisch schlug, ließ sie abbrechen.
»Nenne hier nicht Liandrins Namen, Kind!« fauchte die Amyrlin. Leane beobachtete alles ernst und würdevoll.
»Mutter, Liandrin gehört zur Schwarzen Ajah!« brach es aus Elayne heraus.
»Das ist bekannt, Kind. Zumindest haben wir es vermutet und waren so gut wie sicher. Liandrin hat schon vor Monaten die Burg verlassen, und mit ihr gingen zwölf andere... Frauen. Keine ist seither nochmals gesehen worden. Bevor sie gingen, versuchten sie, in den Lagerraum einzubrechen, in dem wir die Angreal und SaAngreal aufbewahren, und sie schafften es auch tatsächlich, den Vorraum zu betreten, wo einige kleinere TerAngreal gelagert waren. Sie haben eine Anzahl davon gestohlen, darunter einige, deren Verwendungszweck wir nicht kannten.«
Nynaeve sah die Amyrlin entsetzt an, und Elayne rieb sich die Arme, als fröre sie. Egwene schauderte ebenfalls. Sie hatte sich oft vorgestellt, wie sie zurückkehrten und Liandrin anklagten, wie sie dafür sorgten, daß die Schwarze Ajah bestraft würde, obwohl sie sich keine Strafe vorstellen konnte, die diesen Verbrechen angemessen schien. Sie hatte sich sogar vorgestellt, daß Liandrin bei ihrer Rückkehr bereits geflohen sei, natürlich aus Angst vor ihnen. Aber die Wirklichkeit war nun doch ganz anders als ihre Tagträume. Wenn Liandrin und die anderen — sie hatte bisher nicht glauben wollen, daß es noch andere gab — diese Überreste aus dem Zeitalter der Legenden gestohlen hatten, konnte man überhaupt nicht vorhersehen, was sie damit anfangen würden. Dem Licht sei Dank, daß sie keinen Sa'Angreal in die Hände bekommen haben, dachte sie. Es war so schon schlimm genug.
Die Sa'Angreal waren so wie die Angreal. Sie gestatteten einer Aes Sedai, mehr Macht zu benützen, als sie ohne Hilfe bewältigen konnte. Aber sie waren eben viel mächtiger als die Angreal und äußerst selten obendrein. Ter'Angreal waren etwas anderes. Es gab mehr davon als von den beiden anderen Arten, wenn auch immer noch nicht sehr viele, und sie benützten die Eine Macht, anstatt bei deren Verwendung zu helfen. Keiner verstand sie wirklich. Viele funktionierten nur bei jemandem, die mit der Macht sowieso umgehen konnte, denn sie brauchten diese Anwendung der Macht, um überhaupt zu funktionieren. Andere wieder waren für jedermann zu gebrauchen. Während alle Angreal und Sa'Angreal, von denen Egwene je gehört hatte, klein waren, fand man die TerAngreal in jeder Größenordnung. Jeder war offensichtlich von diesen Aes Sedai vor dreitausend Jahren für einen ganz bestimmten Zweck geschaffen worden, und seither waren Aes Sedai dafür gestorben, diesen Zweck herauszufinden — gestorben, oder ihre Fähigkeit zum Gebrauch der Macht war ausgebrannt. Es gab unter den Braunen Ajah Schwestern, die ihr ganzes Leben der Studie von Ter'Angreal widmeten.
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