Kahlan ließ sich lächelnd nieder, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Steinsäule, an der man sie festgebunden hatte, und beobachtete Richard, der dabei die Ohren von Bettys Zwillingsjungen kraulte und zuhörte.
Betty ließ ihre beiden Jungen nicht aus den Augen; als sie sah, daß sie in Sicherheit waren, blickte sie hoffnungsvoll hoch zu Jennsen. Ihr kleiner Schwanz fing fröhlich an zu wedeln.
»Betty?«
Vergnügt sprang die Ziege an ihr hoch, sie hatte lange genug auf das Wiedersehen gewartet. Jennsen schloß das Tier weinend in ihre Arme, dann erhob sie sich und trat ihrem Bruder dem Lord Rahl, mutig entgegen.
»Aber warum wolltet Ihr Euch nicht genauso verhalten wie Eure Vorfahren? Warum? Wie konntet Ihr das alles riskieren, was in dem Buch geschrieben wird?«
Richard hakte seine Daumen hinter seinen Gürtel und holte tief Luft. »Das Leben findet in der Zukunft statt, nicht in der Vergangenheit. Durch Erfahrung können wir aus der Vergangenheit lernen, wie bestimmte Dinge sich künftig erreichen lassen; die Vergangenheit mit ihren lieben Erinnerungen vermag uns zu trösten, sie liefert die Grundlage für alles bislang Erreichte. Aber nur die Zukunft birgt das Leben. In der Vergangenheit leben, das heißt, sich bereitwillig dem Tod überlassen. Aber wenn man das Leben in vollen Zügen genießen will, muß jeder Tag neu erschaffen werden. Als rationale, denkende Wesen sind wir dazu verpflichtet, unseren Verstand zu gebrauchen, um vernunftgesteuerte Entscheidungen zu treffen und uns nicht blindlings auf das Althergebrachte zu verlassen.«
»Leben bedeutet Zukunft, nicht Vergangenheit«, sagte Jennsen leise bei sich, in Gedanken bereits bei all den Dingen, die das Leben jetzt für sie bereit hielt. »Wo in aller Welt habt Ihr das nur her?«
Richard mußte grinsen. »So lautet das siebente Gesetz der Magie.«
Jennsen blickte zu ihm hoch. »Ihr habt mir eine Zukunft geschenkt, dafür möchte ich Euch danken.«
Daraufhin umarmte er sie, und plötzlich fühlte sich Jennsen gar nicht mehr so allein auf der Welt. Sie fühlte sich wieder als vollständiges Wesen. Es tat so gut, in die Arme genommen zu werden, wahrend sie bittere Tränen über ihre Mutter vergoß, aber auch Freudentränen über ihre Zukunft und weil das Leben wieder vor ihr lag Kahlan strich Jennsen über den Rücken. »Willkommen in der Familie.«
Als Jennsen sich überglücklich lachend die Augen wischte und mit der anderen Hand Bettys Ohren kraulte, sah sie plötzlich Tom ganz in der Nähe stehen.
Jennsen lief zu ihm und warf sich ihm in die Arme. »Oh, Tom, Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, Euch zu sehen! Danke, daß Ihr mir Betty zurückgebracht habt.«
»So bin ich halt. Ich bringe Euch, wie versprochen, Eure Ziege. Wie sich herausstellte, wollte die Wurstverkäuferin Irma nur ein Jungtier von Eurer Ziege. Sie besitzt einen Ziegenbock und wünschte sich Nachwuchs. Ein Junges hat sie behalten und die beiden anderen Euch überlassen.«
»Betty hatte Drillinge?«
Tom nickte. »Ich fürchte, ich habe mich ziemlich in Betty und ihre beiden Kleinen verliebt.«
»Ich kann gar nicht glauben, daß Ihr das für mich getan habt. Ihr seid einfach großartig, Tom.«
»Das meinte meine Mutter auch immer. Vergeßt nicht, Ihr habt versprochen, Lord Rahl etwas auszurichten.«
Jennsen lachte vor lauter Freude. »Das werde ich auch ganz gewiß tun! Aber wie in aller Welt habt Ihr mich nur gefunden?«
Lächelnd zog Tom ein Messer hinter seinem Rücken hervor. Zu Jennsens Überraschung war es das exakte Gegenstück zu ihrem.
»Wißt Ihr«, erklärte er, »ich trage es in Diensten Lord Rahls.«
»Tatsächlich?«, fragte Richard. »Ich bin Euch bisher nicht einmal begegnet.«
»Oh«, warf die Mord-Sith ein, »Tom hier ist in Ordnung, Lord Rahl. Für ihn lege ich meine Hand ins Feuer.«
»Vielen Dank, Cara«, meinte Tom mit einem vergnügten Funkeln in den Augen.
»Dann wußtet Ihr die ganze Zeit, daß ich Euch etwas vorgemacht habe?«, fragte Jennsen.
Tom zuckte mit den Achseln. »Ich wäre wohl kaum ein geeigneter Beschützer des Lord Rahl, wenn ich eine verdächtige Person wie Euch, die es ganz offensichtlich auf jemanden abgesehen hat, frei herumlaufen ließe, ohne alles daranzusetzen, in Erfahrung zu bringen, was Ihr wohl im Schilde führt. Ich habe Euch keinen Moment aus den Augen gelassen und bin Euch ein großes Stück Eurer Reise gefolgt.«
Jennsen gab ihm scherzhaft einen deftigen Klaps auf die Schulter. »Ihr habt mir nachspioniert!«
»Als Beschützer des Lord Rahl mußte ich wissen, was Ihr vorhabt, und sicherstellen, daß Ihr Lord Rahl kein Leid zufügt.«
»Nun«, meinte sie, »in diesem Fall kann ich aber nicht behaupten, daß Ihr gute Arbeit geleistet hättet.«
»Was wollt Ihr damit sagen?« Tom gab sich übertrieben empört.
»Ich hätte ihn doch tatsächlich erstechen können. Ihr standet die ganze Zeit dort drüben, viel zu weit entfernt, um einzugreifen.«
Tom setzte sein Jungenlächeln auf.
»Oh, ich hätte niemals zugelassen, daß Ihr Lord Rahl verletzt.«
Tom drehte sich um und wog sein Messer in der Hand, und plötzlich sirrte die Klinge mit einer irrwitzigen Geschwindigkeit quer durch die Senke und bohrte sich mit einem dumpfen Geräusch in eine der fernen, umgestürzten Sandsteinsäulen. Jennsen kniff die Augen zusammen und konnte gerade eben erkennen, daß sie etwas Dunkles aufgespießt hatte.
Sie folgte Tom, Richard, Kahlan und der Mord-Sith zwischen emporragenden Säulen und Gesteinstrümmern hindurch zu der Stelle, wo das Messer steckte. Es hatte einen von einer Hand gehaltenen Lederbeutel genau in der Mitte durchbohrt.
»Bitte«, erklang eine gedämpfte Stimme unter dem Felsblock, »bitte laßt mich raus. Ich gebe Euch auch Geld dafür. Ich kann bezahlen, ich besitze Geld.«
Oba. Der Felsbrocken war auf ihn herabgestürzt, als er versucht hatte fortzulaufen. Er war auf die Felsen gefallen, die verhinderten, daß der Mittelteil des Säulenschafts, der so mächtig war, daß zwanzig Männer mit ausgestreckten Armen ihn nicht hätten umfassen können, zu Boden krachte, wodurch ein winziger Hohlraum entstanden war, in dem der Mann unter Tonnen von Gestein begraben lag.
Tom zog sein Messer aus dem weichen Gestein, nahm den Lederbeutel an sich und hielt ihn hin und her schwenkend in die Höhe.
»Friedrich!«, rief er zum Wagen hinüber. Ein Mann richtete sich auf. »Friedrich! Gehört dieser Beutel hier vielleicht Euch?«
Und dann wurde Jennsen, an diesem Tag voller Überraschungen, ein weiteres Mal überrascht, denn sie sah Friedrich Gilder, Altheas Ehemann, vom Wagen herunterklettern und sich ihnen nähern.
»Der gehört tatsächlich mir«, sagte er. Er warf einen Blick unter den Felsen. »Du hast noch mehr davon.«
Kurz darauf begann eine Hand, weitere Leder- und Stoffbeutel herauszureichen. »Da habt Ihr mein ganzes Geld. Jetzt laßt mich endlich raus.«
»Nun«, meinte Friedrich, »ehrlich gesagt glaube ich nicht, daß ich diesen Felsen anheben könnte, erst recht nicht für den Mann, der für den Tod meiner Frau verantwortlich ist.«
»Althea ist gestorben?«, erkundigte sich Jennsen schockiert.
»Ja. Die Sonne meines Lebens ist untergegangen.«
»Das tut mir so unendlich leid«, sagte sie leise. »Sie war eine wundervolle Frau.«
Ein Lächeln ging über Friedrichs Gesicht. »Ja, das war sie.« Er nahm einen kleinen, abgegriffenen Stein aus seiner Hosentasche. »Aber sie hat mir das hier hinterlassen, und das ist wenigstens eine kleine Freude.«
»Merkwürdig«, meinte Tom und kramte in seiner Hosentasche, bis er einen kleinen Gegenstand zum Vorschein brachte. Er öffnete seine Hand, so daß ein kleiner Stein in seiner Handfläche sichtbar wurde. »Ich besitze auch so einen Stein. Ich trage ihn immer bei mir, als Glücksbringer.«
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