Offenbar hatte sie das Bewußtsein verloren; ein Teil ihres dichten Haars baumelte von ihrem auf die Brust gesunkenen Kopf herab, ihre Arme hingen schlaff neben ihrem Körper. Sie trug schlichte Reisekleidung, die jedoch ebenso wenig wie der halb ihr Gesicht verdeckende Haarschleier verhüllen konnte, welch schöne Frau sie war. Sie schien nur wenige Jahre älter zu sein als Jennsen. und es sah nicht so aus, als würde sie noch sehr viel älter werden.
Wie aus dem Nichts erschien Schwester Perdita neben ihr, riß den Kopf der Mutter Konfessor an den Haaren hoch, betrachtete sie kurz, und ließ ihn wieder fallen.
Jennsen brauchte die Stimme in ihrem Kopf nicht, um zu begreifen, daß dies der Köder war, den man ausgelegt hatte, um Richard Rahl in den Tod zu locken. Die Stimme hatte ihre Schuldigkeit getan.
Entschlossen packte Jennsen ihr Messer fest mit der Hand und lief hinüber zu der Schwester. Der bewußtlosen Frau drehte sie den Rücken zu, um keinen Gedanken an sie verschwenden und sie nicht ansehen zu müssen, und konzentrierte sich statt dessen ganz auf ihre bevorstehende Aufgabe.
Plötzlich trat der Mann, der gelacht hatte, hinter einer nahen Säule hervor, zweifellos, um seinen Teil beim Anlocken des Opfers beizutragen. Jennsen erkannte das schauderhafte Grinsen, Es war derselbe Mann, den sie in der Nacht gesehen hatte, als die Hexenmeisterin Lathea ermordet worden war, der Mann, vor dem Betty sich so gefürchtet hatte und den Jennsen aus ihren Alpträumen zu kennen glaubte.
»Wie ich sehe, habt Ihr meine Königin gefunden«, meinte der Alptraum in Menschengestalt.
»Was?«, fragte Sebastian verdutzt.
»Meine Königin«, wiederholte der Mann, noch immer mit demselben schauderhaften Grinsen im Gesicht. »Ich bin König Oba Rahl, und sie wird meine Königin sein.«
In diesem Moment bemerkte Jennsen, daß in seinen Augen eine geringfügige Ähnlichkeit mit Nathan Rahl, mit Richard Rahl und auch mit ihr selbst bestand. Bei ihm war diese Ähnlichkeit wohl nicht so stark ausgeprägt wie bei ihr, trotzdem hatte sie genug gesehen, um zu wissen, daß er die Wahrheit sagte – auch er war ein Sohn Darken Rahls.
»Da kommt er«, sagte er, drehte sich um und stellte ihn mit einer Handbewegung vor, »mein Bruder, der derzeitige Lord Rahl.«
Richard trat aus den Schatten hervor.
»Du brauchst dich nicht vor ihm zu fürchten, Jenn«, flüsterte Sebastian ihr ins Ohr. »Er kann dir nichts tun. Jetzt kannst du ihn dir vornehmen.«
Ihre Gelegenheit war gekommen; noch einmal würde sie sie nicht vertun.
Und dann sah sie hinter dem dichten Wald aus steinernen Säulen mehrfach kurz den näher kommenden Wagen auftauchen. Sie glaubte die Pferde wiederzuerkennen – zwei Grauschimmel mit schwarzer Mähne und ebensolchem Schweif. Es waren die größten Pferde, die sie je gesehen hatte. Aus den Augenwinkeln konnte sie erkennen, daß der Fahrer ein blonder Hüne war.
Als Jennsen sich umwandte und ungläubig auf den Wagen starrte, vernahm sie Bettys vertrautes Meckern. Die Ziege hatte ihre Vorderhufe neben dem Fahrer auf den Sitz gestellt, woraufhin der große, blonde Mann sie kurz kraulte. Er sah aus wie Tom.
»Jennsen«, rief Richard, »gib den Weg zu Kahlan frei.«
»Tu es nicht, Schwester!«, schrie Oba, brüllend vor Lachen.
Das Messer in der Hand, näherte sich Jennsen rückwärts gehend der bewußtlosen Frau, die hinter ihr an der aufragenden Felsensäule hing. Richard würde versuchen, sie zu überwältigen, wenn er zu Kahlan wollte, und dann würde Jennsen ihn erwischen.
»Jennsen«, fragte Richard, »wieso hältst du es mit einer Schwester der Finsternis?«
Verwirrt sah sie kurz zu Schwester Perdita hinüber. »Mit einer Schwester des Lichts«, verbesserte sie.
Richard schüttelte langsam den Kopf, während sein Blick zu der hinter ihr stehenden Schwester Perdita schweifte. »Nein, sie ist eine Schwester der Finsternis. Jagang hat auch Schwestern des Lichts in seiner Gewalt, aber die anderen ebenfalls. Sie sind alle Sklavinnen des Traumwandlers, deswegen tragen sie auch den Ring durch die Unterlippe.«
Den Namen – Traumwandler – hatte Jennsen schon einmal gehört; sie versuchte sich verzweifelt zu erinnern, wo. Sie erinnerte sich auch an die Beschwörungen der Schwestern in jener Nacht im Wald. Dies alles schoß ihr in einem wüsten Durcheinander durch den Kopf. Da war es auch wenig hilfreich, daß die Stimme zugegen war und sie unablässig bedrängte. Ihr ganzes Innenleben schrie geradezu danach, diesen Mann zu töten, und doch hielt etwas sie zurück. Sie wußte nur, daß es nicht seine Magie sein konnte.
»Ihr werdet Jennsen überwältigen müssen, wenn Ihr Kahlan retten wollt«, sagte Schwester Perdita in ihrer kühlen, vor Verachtung triefenden Stimme. »Allmählich gehen Euch Zeit und Alternativen aus, Lord Rahl. Ihr tätet gut daran, Eure Gemahlin zu retten, bevor auch ihre Zeit abgelaufen ist.«
Seitlich von sich erblickte Jennsen, noch ein gutes Stück entfernt, ihre braune Ziege, die, Tom um Längen hinter sich zurücklassend, durch den Wald aus steinernen Säulen gesprungen kam.
»Betty?«, rief Jennsen leise mit tränenerstickter Stimme, während sie sich den schwarzen Schleier vom Kopf wickelte, damit die Ziege sie erkannte.
Die Ziege reagierte auf die Nennung ihres Namens mit einem Meckern und wedelte im Laufen fröhlich mit dem Schwanz. Dahinter, ungefähr auf Toms Höhe, folgte noch etwas anderes, Kleineres. Bevor die Ziege sie erreichte, begegnete sie überraschend Oba. Sie war gerade hinter einer Säule hervorgekommen, als sie ihn erblickte, und wich unter kläglichem Gemecker zur Seite hin aus. Jennsen kannte Bettys Schrei nur zu gut, wenn sie es mit der Angst bekam und sich bedrängt fühlte, wenn sie Hilfe brauchte und getröstet werden wollte.
Der Himmel entlud sich mit Donner und Blitzen, was das Tier zusätzlich verängstigte.
»Betty?«, wiederholte Jennsen, die kaum ihren Augen zu trauen wagte und sich bereits fragte, ob es vielleicht ein Trugbild sein könnte, eine grausame Sinnestäuschung. Doch dazu wäre Lord Rahls Magie wohl doch nicht fähig gewesen.
Als sie ihre Stimme hörte, sprang die Ziege, ihre lebenslange, geliebte Freundin, auf Jennsen zu. Kaum mehr ein Dutzend Sprünge entfernt, sah die Ziege hoch zu Jennsen und blieb jählings stehen. Das Schwanzwedeln setzte abrupt aus; Betty meckerte unglücklich. Das Meckern schlug um in Entsetzen angesichts des Anblicks, der sich ihr jetzt bot.
»Betty«, rief Jennsen, »alles in Ordnung. Komm doch – ich bin es.«
Die Reaktion der Ziege war jedoch die Gleiche wie eben noch bei Oba, die Gleiche wie in jener Nacht, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte; ängstlich wich sie vor Jennsen zurück, machte kehrt und rannte los.
Geradewegs auf Richard zu.
Er ging in die Hocke, als das sichtlich gepeinigte Tier auf der Suche nach Trost auf ihn zugesprungen kam – und ihn schließlich auch unter seiner schützenden Hand fand.
In diesem Augenblick hörte Jennsen zu ihrer völligen Verblüffung weitere Meckerlaute. Ein kleines, weißes Zwillingsziegenpaar erschien munter springend inmitten der Menschen, inmitten dieser angespannten Situation auf Leben und Tod. Sie scheuten, als sie den Mann erblickten, drehten sich um und wichen, als sie Jennsen sahen, auch vor ihr zurück.
Betty antwortete auf ihre Rufe; blitzschnell machten auch sie kehrt und flohen in ihre Obhut. In Gegenwart ihrer Mutter fühlten sie sich geborgen und drängten sich um Richard, ganz versessen auf die beruhigenden Streicheleinheiten, die ihre Mutter soeben erhielt.
Tom war ein gutes Stück weiter hinten in der Nähe einer Säule stehen geblieben und beobachtete das Geschehen von weitem. Offensichtlich hatte er nicht die Absicht, sich einzumischen.
Jennsen war jenseits allen Zweifels überzeugt, daß die ganze Welt sich in ein Tollhaus verwandelt hatte.
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