Als sie nach Richards Schätzung wieder ungefähr die Mitte des Geländes erreicht hatten, blieb er mit weit gespreizten Beinen stehen, die Hände in die Hüften gestemmt, und blickte wiederum nach Osten. Von ihrem Standort aus konnten sie die Ränder des leblosen Felsstreifens erkennen, hinter denen der Bewuchs einsetzte.
Blickte man von hier nach Osten, zeichnete sich ein augenfälliges Muster ab – ein sich deutlich hervorhebender, mehrere Meilen breiter Streifen, der sich in der Ferne verlor.
Nichts wuchs innerhalb der Grenzen dieses schnurgeraden Streifens lebloser Wüste, unabhängig davon, ob dieser über Felsen oder Sandboden führte. Das Gelände rechts und links davon mit den weit auseinander liegenden Sträuchern und flechtenbewachsenen Felsen war dunkler, die völlig unbewachsene Stelle dazwischen von etwas hellerem Braun. In der Ferne war der Farbunterschied noch deutlicher zu erkennen.
Der Streifen vollkommen leblosen Bodens erstreckte sich meilenweit bis zu den fernen Bergen, verjüngte sich allmählich zu einer undeutlichen Linie, die dem ansteigenden Gelände folgte, bis sie sich schließlich im fernen Dunst verlor.
»Denkst du dasselbe wie ich?«, fragte Kahlan leise mit sorgenvoller Stimme.
»Was denn?«, fragte Cara dazwischen. »Was denkt Ihr denn?«
Richard betrachtete die Mischung aus Verwirrung und Besorgnis in den Zügen der Mord-Sith. »Was hat Darken Rahls Armeen in D’Hara festgehalten? Was hat ihn all die Jahre daran gehindert, bis in die Midlands vorzudringen und sie zu erobern, obwohl das sein erklärtes Ziel war?«
»Er konnte die Grenze nicht überschreiten«, sagte Cara, so als sei er im Begriff, jeden Augenblick einem Hitzschlag zu erliegen.
»Und woraus bestand die Grenze?«
Plötzlich wich auch aus Caras vom Schwarz des Wüstengewandes eingerahmtem Gesicht jegliche Farbe. »Die Grenze war ein Teil der Unterwelt?«
Richard nickte. »Man muß sich das Ganze wie einen Riß im Schleier vorstellen, durch den die Unterwelt in diese Welt einsickern konnte. Zedd hat uns davon berichtet. Er hat die Grenze damals mit Hilfe eines Banns, den er in der Burg der Zauberer gefunden hatte – eines Banns aus der grauen Vorzeit des Großen Krieges – wieder errichtet. Als sie schließlich wieder stand, wurde die Grenze zu einem Ort im Diesseits, an dem gleichzeitig die Welt der Toten existierte. Und an diesem Ort an dem die beiden Welten einander berührten, konnte nichts wachsen.«
»Aber seid Ihr wirklich vollkommen sicher, daß dort auch später nichts mehr gewachsen ist? Immerhin war es nach wie vor unsere Welt – die Welt des Lebens?«
»Das wäre völlig unmöglich gewesen. Obwohl das betreffende Gebiet nach wie vor der Welt des Lebens angehörte, war dort jegliches Leben unmöglich, da es gleichzeitig Teil des Totenreichs war. Was immer sich dort befand, wäre demnach vom Tod berührt worden.«
Cara blickte an dem schnurgeraden Streifen bar jeden Lebens entlang, der sich flirrend in der Ferne verlor. »Und was denkt Ihr nun? Daß dies eine Grenze ist?«
»Nein, war.«
Caras Blick wanderte von seinem Gesicht zu Kahlan, und von dort wieder in die Ferne »Die was voneinander trennte?«
Am Himmel kam ein Schwarm schwarz gezeichneter Riesenkrähen in Sicht, die sich von den Luftströmungen in großer Höhe tragen ließen und lautlos ihre Kreise zogen.
»Ich weiß es nicht«, mußte Richard zugeben.
Er richtete den Blick wieder nach Westen an dem sacht abfallenden Hang entlang, der von den Bergen zu jenem Ort zurückführte, den sie wenige Tage zuvor verlassen hatten.
»Aber seht doch.« Richard deutete mit einer Handbewegung hinaus in die verbrannte Ödnis, aus er sie gekommen waren. »Er reicht zurück bis zu den Säulen der Schöpfung.«
Wie der Bewuchs in dieser Richtung immer spärlicher wurde, ehe er schließlich ganz aufhörte, so endete auch der vollkommen leblose Streifen. Er war von der umliegenden Wüste nicht mehr zu unterscheiden, weil entlang der ehemaligen Grenzlinie keinerlei Spuren von Leben existierten.
»Wie weit er tatsächlich reicht, läßt sich unmöglich sagen. Soweit ich weiß, könnte er glatt bis ins Tal selbst zurückführen.«
»Jetzt begreife ich überhaupt nichts mehr«, meinte Kahlan. »daß er möglicherweise den Grenzen oben in der Neuen Welt zwischen Westland, den Midlands und D’Hara geähnelt haben mag, kann ich ja noch nachvollziehen. Aber die Seelen mögen mich holen, ich begreife einfach nicht, wieso er ausgerechnet bis zu den Säulen der Schöpfung führen sollte. Das erscheint mir doch mehr als seltsam.«
Richard wandte sich abermals herum; er blickte wieder nach Osten, in die Richtung, auf die sie zuhielten, zu der faltigen, grauen Wand des Gebirges, das sich steil über der endlosen Weite der Wüste erhob, und betrachtete den fernen Einschnitt etwas nördlich jener Stelle, wo die Grenzlinie auf ebenjene Berge traf.
Dann schaute er wieder nach Süden, wo der Wagen noch immer holpernd auf die Berge zusteuerte.
»Wir sollten zusehen, daß wir die anderen einholen«, meinte er schließlich. »Ich muß dringend an der Übersetzung des Buches weiterarbeiten.«
Die unheimlich anmutenden steilen Gipfel rings um Richard erglühten unter der sanften Berührung der letzten Strahlen der tiefstehenden Sonne. Wahrend er den einsamen Rand der himmelwärts ragenden Berge dahinter aufmerksam beobachtete, verdunkelten sich die langen Schatten im bernsteinfarbenen Licht; steinernen Wächtern gleich säumten Zacken rötlichen Gesteins die unteren Gefilde der trostlosen Vorberge, so als lauschten sie auf das hallende Knirschen seiner Schritte im mäandernden Kiesbett des Flusses.
Richard war nach Einsamkeit zumute gewesen, um nachdenken zu können, also war er allein losgezogen, um das Gelände zu erkunden.
Zu seiner großen Enttäuschung hatte ihm das Buch bislang noch nichts verraten, was ein wenig Licht in die rätselhafte Existenz der eigenartigen Grenzlinie hätte werfen können – ganz zu schweigen von der Verbindung zwischen seinem Titel, dem Ort mit Namen »Säulen der Schöpfung« sowie den nicht mit der Gabe geborenen Menschen wie Jennsen. Der Anfang des Buches, soweit er ihn bisher übersetzt hatte, schien im Wesentlichen eine historische Niederschrift zu sein, die sich mit unvorhergesehenen Ereignissen im Zusammenhang mit dem Auftreten der »Säulen der Schöpfung«, wie Menschen wie Jennsen genannt wurden, sowie den ausnahmslos gescheiterten Versuchen, diese »Unglücklichen« zu »heilen«, befaßte.
Bislang deutete nichts darauf hin, daß ihm das Buch irgendwann irgendwelche Antworten liefern würde, nichtsdestoweniger schien der sich nur allmählich entwickelnde Bericht auf einen Punkt zuzusteuern, der ihn zunehmend mit Besorgnis erfüllte. Gern hätte er einige Kapitel übersprungen, doch frühere Erfahrungen hatten gezeigt, daß dies oft mehr Zeit kostete als sparte, weil dadurch ein Verständnis des Gesamtzusammenhangs eher behindert wurde – was wiederum zu vorschnellen Schlüssen verleitete. So blieb ihm nichts anderes übrig, als sich einfach durchzubeißen.
Nachdem er den ganzen Tag gearbeitet und sich intensiv mit dem Buch beschäftigt hatte, hatte er schließlich rasende Kopfschmerzen bekommen. Zuvor waren diese mitunter tagelang ausgeblieben, doch jetzt schienen sie mit jedem Auftreten stärker zu werden. Er hütete sich davor, Kahlan von seiner Befürchtung zu erzählen, er könnte es vielleicht nicht bis zum Brunnen der Sliph in Tanimura schaffen, und zermarterte sich neben der Arbeit an der Übersetzung auch noch den Verstand auf der Suche nach einer Lösung dieses Problems.
Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was der Schlüssel zu den von der Gabe ausgelösten Kopfschmerzen sein mochte, dennoch beschlich ihn das beklemmende Gefühl, daß dieser womöglich bei ihm selbst lag. Er befürchtete, es könnte sich um ein Problem der Ausgewogenheit handeln, das er einfach übersah. Einmal, als er gerade allein unterwegs war, hatte er sogar seine Zuflucht darin gesucht, sich auf den Boden zu setzen und zu meditieren, wie es ihm die Schwestern einst beigebracht hatten, um sich auf die Gabe in seinem Innern zu konzentrieren. Es hatte nichts genützt.
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