Vor langer Zeit war es, im Gegensatz zu heute, durchaus üblich, mit beiden Seite der Gabe auf die Welt zu kommen. Eine der Folgen des Großen Krieges damals war daß man eine Barriere errichtete, die die Neue Welt von der Alten trennte – ein Maßnahme, die über viele Jahre den Frieden sicherte. Doch seitdem haben sich die Dinge geändert: Nicht nur sind die mit beiden Seiten der Gabe Geborenen äußerst selten geworden, sondern diese wenigen haben die subtraktive Seite der Gabe auch nicht mehr weitervererbt.
Richard stammt von zwei Geschlechtern von Zauberern ab, von Darken Rahl und von seinem Großvater Zedd. Darüber hinaus ist er seit Jahrtausenden der Erste, der mit beiden Seiten der Gabe geboren wurde.
Die Gesamtheit unserer Talente bestimmt über unser Vermögen, auf bestimmte Situationen zu reagieren. Nur wissen wir eben nicht, wie die beiden Seiten der Gabe sich auf Richards Vermögen auswirken, eine Situation so zu durchschauen, daß er das Notwendige tut. Ich vermute, daß die Gabe sein Handeln bestimmt, möglicherweise sogar in stärkerem Maße, als er selbst glaubt.«
Jennsen stieß einen besorgten Seufzer aus. »Wie kam es eigentlich, daß diese Grenze nach dieser langen Zeit gefallen ist?«
»Richard hat sie zerstört.«
Jennsen hob erstaunt den Kopf. »Dann stimmt es also doch. Sebastian hat mir nämlich erzählt, daß Lord Rahl – also Richard – die Grenze niedergerissen hat, und zwar damit er in die Alte Welt eindringen und sie erobern kann.«
Die Unterstellung war so ungeheuerlich, daß Kahlan nur darüber lächeln konnte. »Aber das glaubst du doch nicht etwa, oder?«
»Nein, jetzt nicht mehr.«
»Im Grunde ist es genau umgekehrt: Jetzt, da die Grenze gefallen ist, fällt die Imperiale Ordnung in die Neue Welt ein und ermordet oder versklavt jeden, der sich ihr dabei in den Weg zu stellen versucht.«
»Gibt es denn gar keinen Ort, wo die Menschen in Sicherheit leben können? Wo wir in Sicherheit leben können?«
»Nein – nicht, solange man diesen Leuten nicht Einhalt geboten und sie zurückgejagt hat.«
Jennsen dachte einen Moment darüber nach. »Aber wenn der Fall der Grenze der Imperialen Ordnung die Eroberung der Neuen Welt erst ermöglicht hat, warum hat Richard sie dann überhaupt zerstört?«
Kahlan hielt sich mit einer Hand an der Seitenwand des Wagens fest, als dieser über eine Unebenheit im Gelände holperte. Den Blick starr nach vorn gerichtet, betrachtete sie Richard, der durch die gleißende Helligkeit dieser Ödnis stapfte.
»Er hat es meinetwegen getan«, antwortete Kahlan mit ruhiger Stimme. »Es war einer dieser Fehler, über die wir soeben gesprochen haben.« Sie seufzte erschöpft. »Einer dieser Versuche mit Ungewissem Ausgang.«
Richard ging in die Hocke und besah sich die merkwürdige Stelle auf dem felsigen Untergrund. Er hatte schon wieder pochende Kopfschmerzen, bemühte sich aber nach Kräften, sie zu ignorieren. Mittlerweile kamen und gingen die Kopfschmerzen ohne erkennbaren Anlaß, so daß er gelegentlich schon zu der Annahme neigte, ihre Ursache sei vielleicht doch die unerträglichen Hitze und nicht seine Gabe.
Während er jetzt die Spuren auf dem Boden betrachtete, waren seine Kopfschmerzen schlagartig vergessen. Irgend etwas an dem felsigen Boden kam ihm vertraut vor – nicht einfach nur vertraut, sondern beunruhigend vertraut.
Ein paar halb von langen Strähnen zottigen Fells bedeckte Hufe blieben in erwartungsvoller Haltung neben ihm stehen. Betty, in der Hoffnung, etwas zu fressen oder doch wenigstens ein wenig Zuneigung zu ergattern, stupste ihn behutsam mit dem Kopf an.
Nachdem sie zwei Tage lang leidend im Wagen gelegen und jegliche Nahrung verweigert hatte, schien sich die Ziege allmählich vom Verlust ihrer beiden Jungen zu erholen und zu neuem Leben zu erwachen. Mit ihrem Appetit war offenkundig auch ihre Neugier zurückgekehrt. Ganz besonders liebte sie es, Richard auf seinen Erkundungsgängen zu begleiten.
Auch die Landschaft hatte sich während der letzten Tage verändert. Inzwischen waren wieder die ersten Spuren von Leben zu erkennen. Zunächst waren es nicht mehr als ein paar rostbraune Verfärbungen gewesen, hervorgerufen durch auf dem Trümmergestein wachsende Flechten, aber schon kurz darauf hatten sie in einer Senke den ersten dornigen Strauch entdeckt. Mittlerweile bedeckten diese genügsamen Pflanzen in großen Abständen die gesamte Landschaft. Vor allem Betty schätzte die harten Sträucher, an denen sie sich gütlich tat, als wären sie das köstlichste Grünfutter. Auch die Pferde hatten von dem Gestrüpp gekostet, sich aber rasch wieder abgewendet; offenkundig war es nicht nach ihrem Geschmack.
Die Flechten, die jetzt immer häufiger auf dem Gestein zu beobachten waren, glichen verkrusteten, mit farbigen Stellen durchsetzten Flächen. Mancherorts waren sie dunkel, dick und lederartig, dann wieder wuchsen sie so spärlich, daß sie nicht mehr zu sein schienen als eine hauchfeine Schicht grüner Farbe. Diese grünliche Verfärbung war vor allem in Felsspalten und Bodenrissen oder auf der Unterseite von Steinen zu finden, wo sie nicht der bleichenden Kraft der Sonne ausgesetzt waren. Zog man einen der halb aus dem Boden ragenden Steine heraus, konnte man darunter die feinen Ranken einer dunkelbraunen unterirdisch wachsenden Pilzart erkennen.
Winzige Insekten mit langen Fühlern flitzten von Fels zu Fels, und gelegentlich zockelte ein grünlich schimmernder Käfer mit ausladenden Kieferzangen durch den Sand. Winzige rote Ameisen schichteten dunkelrote Staubhaufen um die Eingänge ihrer Baue. In den Astgabelungen der vereinzelten kleinen, dürren Sträucher hingen an Rohbaumwolle erinnernde Spinnennetze. Auf manchen Felsen saßen schlanke grüne Echsen und wärmten sich in der Sonne, während sie die vorüberziehenden Menschen beobachteten. Kamen diese ihnen zu nahe, huschten die winzigen Geschöpfe in Deckung und waren so blitzartig verschwunden, als hätten sie sich überhaupt nicht bewegt.
Was immer Richard bislang an Spuren des Lebens gesehen hatte, war bei weitem noch nicht üppig genug, um menschliches Überleben zu ermöglichen, trotzdem war es ein ungeheuer erleichterndes Gefühl, wieder in die von Leben bevölkerte Welt zurückzukehren – zumal er wußte, daß sie gleich jenseits des ersten Gebirgszuges auf Leben im Überfluß – und damit endlich wieder auf die ersten Menschen – stoßen würden.
Auch Vögel wurden allmählich wieder zu einem gewohnten Anblick. Meist handelte es sich um kleinere Exemplare – Erdbeerfinken, aschefarbene Mückenfänger, Felskönige und schwarzkehlige Spatzen. In der Ferne sah Richard einzelne Raubvögel am Himmel ihre Kreise ziehen, während die Spatzen sich zu kleinen unberechenbaren Schwärmen zusammenfanden. Da und dort ließen sich Vögel auf dem dornigen Gestrüpp nieder, wo sie auf der Suche nach Samenkörnern und Insekten munter umherhüpften. Sämtliche Vögel verschwanden sofort, sobald die Riesenkrähen in Sicht kamen.
Richard, den Blick starr auf die endlose Weite aus Felsgestein und offenem Gelände gerichtet, sprang erschrocken auf; plötzlich dämmerte ihm, warum ihm all dies so vertraut vorkam. Im selben Augenblick, da ihm die Erkenntnis kam, klangen seine Kopfschmerzen schlagartig ab.
Rechter Hand sah er Kahlan, begleitet von Cara, sich der Stelle nähern, wo er stand und auf den erstaunlichen Felsstreifen starrte, während der Wagen mit Tom, Friedrich und Jennsen ein gutes Stück entfernt weiter Richtung Süden holperte. Der vom Wagen und den Zugpferden aufgewirbelte Staub stand in der Luft und war meilenweit zu sehen. Verräterischer Staub spielte angesichts der Riesenkrähen, die ihnen in gewissen Abständen einen Besuch abstatteten, vermutlich keine Rolle, trotzdem wäre Richard froh, wenn sie endlich in ein Gelände kämen, wo sie zumindest die Möglichkeit hätten, sich etwas unauffälliger fortbewegen zu können.
Читать дальше