Auf dem Weg über die vom Fluß fortführende Straße konnte sie gerade eben einige Soldaten ausmachen, die sich auf der dunklen Straßenseite in die Schatten drückten, um sämtliche Fluchtwege abzuriegeln. Es war ihr egal. Was sie im Augenblick interessierte, war nicht Flucht, sondern einzig und allein ihr Ziel. Ungeachtet seines arroganten Gebarens war der Mann hinter ihr überaus wachsam und behandelte sie mit einer Mischung aus Vorsicht und Verachtung.
Je weiter sie in die Stadt auf der anderen Seite des Flusses vordrang, desto dichter drängten sich die Gruppen gedrungener Häuser zusammen. Gewundene Seitenstraßen führten zwischen den baufälligen Gebäuden in ein Gewirr aus völlig übervölkerten Wohnbezirken. Die wenigen Bäume, die es gab, standen unmittelbar am Straßenrand; ihre Äste reichten über sie hinweg wie Arme, erhoben, um sie mit ihren Krallen zu greifen. Kahlan versuchte, den Gedanken, wie tief sie in feindliches Gebiet vordrang und wie viele Soldaten sie hier umzingelten, zu verdrängen.
Als sie das letzte Mal von solchen Wilden umringt und in einen Hinterhalt gelockt worden war, hatte man sie brutal zusammengeschlagen, und sie wäre beinahe dabei umgekommen. Für ihr ungeborenes Kind, Richards Kind, hatte es das Ende bedeutet. An jenem Tag damals hatte sie eine gewisse Art der Unschuld verloren, das naive Gefühl der eigenen Unbesiegbarkeit. An seine Stelle war das Bewußtsein der Vergänglichkeit des Lebens getreten.
Ein Mann trat rechts von ihr aus dem Schatten eines Gebäudes. Er trug ein schwarzes, offenbar mit mehreren Schichten Stoffstreifen besetztes Gewand, das ein wenig so aussah, als wäre er über und über mit schwarzen Federn bedeckt. Sie hoben sich sanft im Luftzug seines forschen Schritts, was seinen Bewegungen etwas verstörend Schwebendes, ja Ungreifbares verlieh.
Sein Haar war mit Öl nach hinten geglättet, das im Mondschein glänzte. Eng beieinander stehende, kleine schwarze Augen, rot gerändert, linsten ihr aus einem durch und durch verdorbenen Gesicht entgegen. Er hielt seine Handgelenke an die Brust gepreßt, so als wollte er seine mit schwarzen Fingernägeln versehenen Krallen vor ihr verbergen.
Kahlan mußte ihm nicht vorgestellt werden, um zu wissen, daß dies Nicholas der Schleifer war. Sie hatte Männern Geständnisse abgenommen, die nach außen hin nichts weiter zu sein schienen als höfliche, junge Burschen, berufstätige Familienväter oder freundliche Großväter, die in Wahrheit jedoch Verbrechen von skrupellosester Grausamkeit begangen hatten. Wenn man sie betrachtete, wie sie hinter ihrer Werkbank standen und Schuhe fertigten, wie sie Brot verkauften oder draußen auf dem Feld ihre Tiere versorgten, wäre es einem schwer gefallen, sie so abscheulicher Verbrechen für fähig zu halten. Aber als sie jetzt Nicholas vor sich sah, offenbarte sich ihr eine Verdorbenheit von so ungeheurem Ausmaß, daß sie alles an ihm, bis hin zu seinen obszön zusammengekniffenen Augen, mit seinem Gift durchdrungen hatte.
»Der Fang aller Fänge«, zischte er. Er streckte eine Hand vor und ballte sie zur Faust. »Und jetzt gehört er mir.«
Kahlan bekam kaum mit, was er sagte; sie hatte sich bereits ihrer unwiderruflichen Entschlossenheit hingegeben, von ihrer Kraft Gebrauch zu machen. Dieser Mann hatte unzählige Menschen als Geiseln genommen. Dieser Mann, dessen Schatten nichts als Leid und Tod bedeutete, würde sie und Richard töten, sobald sich ihm die Gelegenheit böte.
Sie packte sein vorgestrecktes Handgelenk, das er mit seiner anderen Hand umfaßt hielt.
Er stand vor ihr wie eine Statue.
Die Nacht unter dem mit Sternen übersäten Himmelsgewölbe wirkte kalt und abweisend. Sie spürte, wie seine Muskeln sich unter ihrem Griff anspannten, so als wollte er seinen Arm zurückziehen. Doch dafür war es längst zu spät.
Er hatte keine Chance; er gehörte ihr.
Die Zeit gehörte ihr.
Nicholas gehörte ihr.
Sie verschwendete keinen Gedanken darauf, was die Soldaten anschließend mit ihr machen würden. Im diesem Augenblick war es ihr gleichgültig; in diesem einen Augenblick zählte nur ihr Vermögen, das zu tun, was getan werden mußte. Dieser Mann gehörte ausgelöscht.
Er war der Feind. Dieser Mann war in ein Land eingefallen und hatte dort im Namen der Imperialen Ordnung unschuldige Menschen gefoltert, vergewaltigt und ermordet. Dieser Mann war mit Magie in ein Monstrum verwandelt worden, dessen einziger Zweck in ihrer Vernichtung bestand. Dieser Mann war ein Werkzeug der Unterwerfung, ein Geschöpf des Bösen.
Richards Leben lag in den Händen dieses Mannes.
Die Kraft in ihrem Innern zerrte an ihren Fesseln.
Angesichts dieser Kraft verflüchtigten sich all ihre Gefühle zu einem bedeutungslosen Nichts; Angst, Haß, Wut und Entsetzen – all das kannte sie nicht mehr. Alle Empfindungen waren hinter kalter Vernunft zurückgetreten. In diesem alles verzehrenden Augenblick der Stille vor dem gewaltigen Ausbruch ihrer Kraft empfand sie nichts als unbedingte Entschlossenheit. Ihre Kraft war zu einem Werkzeug reiner Vernunft geworden.
Alle Hemmnisse fielen von ihr ab.
Für ein winziges Aufblitzen der Zeit vor sich die kleinen, glänzenden Augen, die ihr entgegenstarrten, erfüllte die Kraft ihr ganzes Sein.
Wie bereits unzählige Male zuvor, warf Kahlan die Fesseln ab, die sie noch hielten, und überließ sich einem Strom der Gewalt, der nur ein einziges Ziel kannte.
Doch wo sie die köstliche Entfesselung erbarmungsloser Stärke hatte spüren sollen, empfand sie nichts als furchtbare Leere, wo ihre Kraft in den Verstand dieses Mannes hätte eindringen sollen, war ... nichts.
Kahlan entfuhr ein lautes Keuchen. Entsetzt riß sie die Augen auf, als sie den heißen Schmerz eines Messers in ihrem Leib spürte; und überdies noch etwas völlig Fremdes und Entsetzliches, Grauenhaftes, das sich mit brutaler Gewalt einen Weg in ihren Körper suchte.
Ein heißer, quälender Schmerz zerriß ihr Bewußtsein bis auf den Grund ihrer Seele.
Es war, als würde ihr Innerstes auseinander gerissen.
Sie versuchte zu schreien, brachte jedoch keinen Laut hervor.
Die Nacht wurde noch schwärzer, als sie bereits war, dann hörte sie ein Lachen durch ihre Seele hallen.
Richard schlug die Augen auf und fühlte sich mit einem Schlag erschreckend hellwach.
Die Härchen in seinem Nacken sträubten sich; ihm war, als stünden ihm die Haare zu Berge. Sein Puls raste unkontrollierbar.
Im nu war er auf den Beinen. Cara, unmittelbar neben ihm und überrascht; daß er so plötzlich aufgesprungen war, versuchte noch, ihn am Arm festzuhalten. Sie schien zu befürchten, er könnte hinfallen, und musterte ihn mit sorgenvoller Miene.
»Was ist, Lord Rahl? Seid Ihr wohlauf?«
Im Raum war es mucksmäuschenstill. Von allen Seiten starrten ihm erschrockene Gesichter entgegen.
»Los, raus mit euch!«, brüllte er. »Holt eure Sachen. Alle raus, sofort!«
Richard schnappte sich seinen Rucksack. Kahlan konnte er nirgendwo entdecken, dafür aber ihren Rucksack, den er ebenfalls an sich nahm. Er fragte sich, ob er vielleicht noch träumte, obschon er sich doch nie an seine Träume erinnerte. Dann kam ihm der Gedanke, das Gefühl könnte vielleicht der Nachhall eines schrecklichen Alptraums sein. Nein – es war durchaus real.
»Bewegt euch!«, schrie Richard, indem er die noch Unschlüssigen zur Tür hin drängte. »Macht schon. Bewegt euch! Raus!«
Es war, als hätte ihn etwas gestreift, eine liebkosende, sanfte Berührung seiner Haut, warm und voller Bosheit. Eine Gänsehaut überlief prickelnd seine Arme.
»Beeilt euch!«
Hektisch stürmten alle die Treppe hoch.
Dicht hinter Richard folgte Cara.
»Wo sind Kahlan und Jennsen?«
»Sie sind vor einer Weile schon nach draußen gegangen«, sagte Cara.
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