Die meisten Flüchtlinge lagen auf zerlumpten Decken, neben sich ihre dürftigen Habseligkeiten. Hier ein Topf, dort eine Decke. Ein kleines Mädchen hielt eine Stoffpuppe, die einst bestimmt hübsch gewesen war, der nun aber ein Arm fehlte. Zweifellos war Rand effektiv darin, Länder zu unterwerfen, aber seine Königreiche brauchten mehr als Lebensmittelzuteilungen. Sie brauchten Stabilität, und sie brauchten etwas - jemand -, an den sie glauben konnten. Rand wurde zusehends schlechter darin, beides anzubieten.
Wo war das Husten hergekommen? Nur wenige der Flüchtlinge sprachen mit ihr, und sie antworteten nur zögernd auf ihre Fragen. Als sie den Jungen endlich fand, war sie mehr als nur etwas verärgert. Seine Eltern hatten ihre Betten zwischen zwei Holzgeschäften aufgeschlagen, und als Nynaeve näher kam, stand der Vater auf, um sich ihr entgegenzustellen. Er war ein verwahrloster Domani mit einem schwarzen struppigen Vollbart, der einst möglicherweise nach der herrschenden Mode gestutzt gewesen war. Er trug keinen Mantel, und das Hemd bestand fast nur noch aus Lumpen.
Nynaeve starrte ihn mit einem Blick nieder, den sie lange vor ihren Tagen als Aes Sedai gelernt hatte. Ehrlich, Männer konnten so dumm sein! Sein Sohn lag vermutlich im Sterben, und doch stellte er sich einer der wenigen Personen in dieser Stadt entgegen, die helfen konnte. Seine Ehefrau hatte mehr Verstand, wie es gewöhnlich der Fall war. Sie legte ihm eine Hand auf das Bein, was ihn zu Boden schauen ließ. Schließlich wandte er sich leise vor sich hinmurmelnd ab.
Die Züge der Frau waren unter all dem Schmutz in ihrem Gesicht nur schlecht zu sehen. Tränen hatten Rinnsale hineingegraben; offensichtlich hatte sie ein paar schlimme Nächte hinter sich.
Nynaeve kniete nieder, den hinter ihr aufragenden Vater ignorierend, und schlug die Decke vom Gesicht des Kindes in den Armen der Frau. Es war bleich und ausgezehrt, und seine Augen schienen durch sie hindurchzusehen.
»Wie lange hustet der Junge schon?«, fragte Nynaeve und zog ein paar Päckchen mit Kräutern aus dem Beutel an ihrer Seite. Sie hatte nicht viel dabei, aber es würde reichen müssen.
»Eine Woche jetzt, Lady«, erwiderte die Frau.
Nynaeve schnalzte ärgerlich mit der Zunge und zeigte auf einen Kupferbecher. »Macht den voll«, fauchte sie den Vater an. »Ihr habt Glück, dass der Junge bis jetzt überlebt hat; ohne Hilfe würde er die Nacht vermutlich nicht überstehen.«
Trotz seines ursprünglichen Zögerns beeilte sich der Vater, ihr zu gehorchen. Er füllte den Becher aus einem Fass in der Nähe. Sooft wie es hier regnete, litten sie wenigstens nicht unter Wassermangel.
Nynaeve nahm den Becher entgegen und mischte Acem und Fieberwurz hinein, dann webte sie Feuer und erhitzte das Wasser. Es fing an zu dampfen, und der Vater murmelte wieder etwas. Nynaeve schüttelte den Kopf; angeblich sollten die Domani recht pragmatisch sein, wenn es um den Gebrauch der Einen Macht ging. Die Unruhe in der Stadt musste ihnen wirklich zu schaffen machen.
»Trink das «, sagte sie zu dem Jungen und benutzte alle Fünf Mächte für ein kompliziertes Heilgewebe, das sie ganz instinktiv benutzte. Ihre Fähigkeiten hatten einige der anderen Aes Sedai staunen lassen, hatten ihr aber von anderen nur Verachtung eingebracht. Aber ihre Methoden funktionierten, selbst wenn sie nicht erklären konnte, wie sie tat, was sie da tat. Das war einer der Segen und der Flüche, wenn man eine Wilde war; sie konnte instinktiv Dinge tun, die andere Aes Sedai kaum erlernen konnten. Aber es fiel ihr ungeheuer schwer, manche der schlechten Eigenschaften abzulegen, die sie sich angewöhnt hatte.
Auch wenn der funge benommen war, reagierte er doch auf den Becher, der an seine Lippen gedrückt wurde. Ihr Heilgewebe lag auf ihm, während er trank, und er versteifte sich und atmete scharf ein. Die Kräuter waren eigentlich unnötig, aber sie würden ihm helfen, nach dem rigorosen Heilen die nötigen Kräfte zu finden. Nynaeve hatte die Gewohnheit abgelegt, das Heilen immer mit Kräutern zu unterstützen, aber sie war nach wie vor der Meinung, dass es seinen Platz hatte.
Der Vater kniete sich bedrohlich nieder, aber Nynaeve drückte ihm die Fingerspitzen gegen die Brust und zwang ihn zurück. »Lasst dem Kind Luft.«
Der Junge blinzelte, und sie konnte sehen, wie sich sein Blick klärte. Er zitterte schwach. Nynaeve unterzog ihn einer Tiefenschau, um feststellen zu können, wie gut das Heilen gewirkt hatte. »Das Fieber ist gebrochen«, sagte sie mit einem Nicken, stand auf und ließ die Eine Macht los. »Er wird in den nächsten paar Tagen gut essen müssen; ich werde den Hafenmeistern eure Beschreibung geben, und ihr werdet zusätzliche Rationen bekommen. Verkauft das Essen nicht, sonst werde ich es herausfinden, und das wird mich sehr böse machen. Habt ihr verstanden?«
Die Frau schaute beschämt zu Boden. »Wir würden niemals …«
»Ich halte nichts mehr für unmöglich«, sagte Nynaeve. »Auf jeden Fall sollte er leben, wenn ihr das tut, was ich euch gesagt habe. Gebt ihm heute Nacht den Rest dieser Lösung, schlückchenweise, wenn es sein muss. Sollte das Fieber zurückkehren, bringt ihn zu mir in den Palast des Drachen.«
»Ja, meine Lady«, sagte die Frau, während sich ihr Mann hinkniete, ihr den Jungen abnahm und lächelte.
Nynaeve ergriff ihre Laterne und erhob sich.
»Lady«, sagte die Frau. »Danke.«
Nynaeve wandte sich ihr wieder zu. »Ihr hättet ihn schon vor Tagen zu mir bringen müssen. Mir ist egal, welchen abergläubischen Unsinn die Leute verbreiten, die Aes Sedai sind nicht euer Feind. Wenn ihr Kranke kennt, dann ermuntert sie, uns zu besuchen.«
Die Frau nickte, und der Ehemann erschien eingeschüchtert. Nynaeve verließ die Gasse, passierte Menschen, die sie mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Entsetzen ansahen. Narren! Sie würden ihre eigenen Kinder eher sterben lassen, als sie zum Heilen zu bringen?
Wieder auf der Hauptstraße beruhigte sie sich. Die Ablenkung hatte wirklich nicht viel von ihrer Zeit beansprucht, und zumindest heute Nacht war Zeit etwas, das sie zur Genüge hatte. Sie hatte nicht viel Glück mit Rand. Ihr einziger Trost war, dass Cadsuane als seine Ratgeberin grandios gescheitert war.
Wie ging man mit einer Kreatur wie dem Wiedergeborenen Drachen um? Nynaeve wusste, dass der alte Rand dort irgendwo drinnen war, ganz tief verborgen. Er war nur einfach so oft geschlagen und getreten worden, dass er sich verbarg und diese unbarmherzige Version herrschen ließ. So sehr sie es auch hasste, das zugeben zu müssen, aber ihn herumzustoßen würde nicht funktionieren. Doch wie sollte sie ihn dazu bringen, das zu tun, was er sollte, wo er doch viel zu starrköpfig war, um auf normale Andeutungen zu reagieren?
Nynaeve blieb stehen. Das Laternenlicht erhellte die leere Straße vor ihr. Es gab eine Person, die es geschafft hatte, mit Rand zu arbeiten und ihn gleichzeitig vieles zu lehren. Es war nicht Cadsuane gewesen und auch keine der Aes Sedai, die versucht hatten, ihn gefangen zu nehmen, hereinzulegen oder herumzustoßen.
Es war Moiraine gewesen.
Nynaeve ging weiter. Während der letzten Monate ihres Lebens hatte die Blaue Rand fast schon umgarnt. Damit er sie als Beraterin akzeptierte, hatte sie eingewilligt, seinen Befehlen zu gehorchen und ihn nur dann zu beraten, wenn man sie darum bat. Aber was hatte man davon, einen Rat nur dann zu bekommen, wenn er gerade erwünscht war? Man musste vor allem mit dem Rat konfrontiert werden, den man nicht hören wollte!
Aber Moiraine hatte Erfolg gehabt. Dank ihres Einflusses hatte Rand angefangen, seine Aversion gegenüber den Aes Sedai zu überwinden. Es war zweifelhaft, ob es Cadsuane je geschafft hätte, seine Beraterin zu werden, hätte er Moiraine nicht irgendwann akzeptiert.
Nun, sie würde ihm jedenfalls nicht auf die gleiche Weise gegenübertreten, ganz egal, wie viele großspurige Titel er auch hatte. Aber sie konnte aus Moiraines Erfolg lernen. Vielleicht hatte Rand ihr ja zugehört, weil ihm ihre Unterwürfigkeit geschmeichelt hatte, vielleicht war er einfach auch nur Leute leid gewesen, die ihn herumstießen. Es gab so viele, die ihn zu kontrollieren versuchten. Sie mussten ihn ärgern, und sie erschwerten Nynaeves Arbeit beträchtlich, da sie die Einzige war, auf die er tatsächlich hören musste.
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