»Ich tue, was ich tun muss«, entgegnete er und verspürte die Wut, die sich schleichend in ihm ausbreitete. Würden sie denn niemals aufhören, sich über seine Entscheidungen zu beschweren?
»Das musst du nicht tun«, sagte sie. »Du wirst dich selbst zerstören. Du …«
Die Wut kochte hoch. Er fuhr herum und zeigte mit dem Finger auf sie. »Willst du wie Cadsuane verbannt werden, Nynaeve?«, brüllte er. »Ich lasse nicht mit mir spielen! Damit ist Schluss. Gib mir einen Rat, wenn man dich danach fragt, und hör auf, mich den Rest der Zeit zu bevormunden!«
Sie zuckte sichtlich zurück, und Rand bekam seine Wut wieder unter Kontrolle. Er senkte die Hand, aber dann wurde ihm bewusst, dass er reflexartig angefangen hatte, nach dem Zugangschlüssel in seiner Tasche zu greifen. Nynaeves Blick richtete sich starr, mit weit aufgerissenen Augen darauf, und er zwang die Hand langsam in eine andere Richtung.
Der Ausbruch überraschte ihn. Er hatte angenommen, sein Temperament im Griff zu haben. Er bezwang es, was ihm aber überraschend schwerfiel. Mit großen Schritten durchquerte er den Raum und stieß die Tür auf; die Töchter folgten ihm. »Heute gibt es keine Audienz mehr«, sagte er zu dem Gefolge, das sich ihm anschließen wollte. »Geht und tut, was ich euch befohlen habe! Ich brauche die anderen Angehörigen des Kaufmannsrats! Geht!«
Sie stoben auseinander. Allein die Aiel blieben und beschützten ihn auf dem Weg zu den Gemächern, die er in diesem Haus für sich beansprucht hatte.
Nur noch kurze Zeit. Er musste die Dinge nur noch kurze Zeit ausbalancieren. Dann konnte es enden. Und ihm wurde bewusst, dass er anfing, diesem Ende genauso begierig entgegenzusehen wie Lews Therin.
Du hast mir versprochen, dass wir sterben können, sagte Lews Therin zwischen fernen Schluchzern.
Das habe ich, erwiderte Rand. Und das werden wir auch.
Nynaeve stand auf der imposanten Stadtmauer von Bandar Eban und betrachtete die dunkle Stadt. Die Mauer befand sich auf der landeinwärts gerichteten Seite, aber Bandar Eban war auf einem Hang errichtet, also konnte sie über die Stadt hinweg zum Ozean sehen. Nebel quoll über das nächtliche Wasser und hing über der Oberfläche, die an einen schwarzen Spiegel erinnerte; er erschien wie ein Abbild der Wolken am Himmel. Diese Wolken schimmerten mit einem geisterhaften Licht, das von einem Mond kam, den Nynaeve nicht sehen konnte.
Der Nebel erreichte die Stadt nicht; das tat er nur selten. Brodelnd hing er über dem Ozean. Wie der Geist eines Waldbrandes, den eine unsichtbare Barriere aufgehalten hatte.
Noch immer konnte sie den Sturm im Norden fühlen. Er forderte sie auf, durch die Straßen zu reiten und Warnungen zu rufen. Flieht in die Keller! Lagert Nahrungsmittel, denn eine Katastrophe wird kommen! Unglücklicherweise würde es bei diesem Sturm nicht damit getan sein, die Mauern zu verstärken. Er war von einer ganz anderen Sorte.
Meeresnebel war oft der Vorbote von Winden, und in dieser Nacht war es nicht anders. Nynaeve zog die Stola enger um die Schultern und roch Salzwasser in der Luft. Es vermischte sich mit den Gerüchen einer überbevölkerten Stadt. Abwasser, dicht zusammengedrängte Körper, Ruß und Rauch von Feuern und Kaminen. Sie vermisste die Zwei Flüsse. Der Wind im Winter war immer kalt gewesen, aber auch stets frisch. Bandar Ebans Wind fühlte sich immer leicht abgenutzt an.
In den Zwei Flüssen würde nie wieder Platz für sie sein. Das wusste sie, auch wenn es sie schmerzte. Sie war jetzt eine Aes Sedai; das war es, zu dem sie geworden war, das ihr wichtiger war als einst die Stellung als Dorfseherin. Mit der Einen Macht konnte sie Menschen auf eine Weise Heilen, die noch immer wie ein Wunder erschien. Und mit der Autorität der Weißen Burg im Rücken war sie eines der mächtigsten Individuen auf der Welt, dem lediglich andere Schwestern und ein paar Monarchen gleichkamen.
Und was die Monarchen anging, so war sie selbst mit einem König verheiratet. Lan mochte ja kein Königreich haben, aber er war ein König. Zumindest für sie. Das Leben in den Zwei Flüssen würde ihm nicht gefallen. Und um der Wahrheit die Ehre zu geben, würde es ihr auch nicht gefallen. Das einfache Leben, das einst alles gewesen war, das sie sich hatte vorstellen können, würde jetzt langweilig und unbefriedigend erscheinen.
Trotzdem fiel es schwer, nicht wehmütig zu sein, vor allem, wenn man den nächtlichen Nebel betrachtete.
»Da«, sagte Merise mit einem Hauch Anspannung in der Stimme. Zusammen mit Cadsuane und Corele schaute sie in die andere Richtung - nicht nach Südwesten über die Stadt zum Ozean, sondern nach Osten. Nynaeve hätte sich beinahe geweigert, die Gruppe zu begleiten, denn sie war eigentlich ziemlich davon überzeugt, dass Cadsuane nicht zuletzt sie für ihr Exil verantwortlich machte. Aber die Aussicht, die Geister zu sehen, war zu verführerisch gewesen.
Nynaeve wandte sich von der Stadt ab und gesellte sich zu den anderen. Corele sah sie an, aber Merise und Cadsuane ignorierten sie. Das kam ihr durchaus entgegen. Auch wenn es sie noch immer ärgerte, dass Corele von der Gelben Ajah sie einfach nicht akzeptieren wollte. Corele war freundlich und mitfühlend, aber auch nicht bereit einzugestehen, dass Nynaeve ebenfalls zu den Gelben gehörte. Nun, die Frau würde ihre Meinung ändern müssen, sobald Egwene die Weiße Burg für sich gesichert hatte.
Nynaeve spähte durch die Zinnen auf der Mauer und musterte die dunkle Landschaft außerhalb der Stadt. Nur mühsam konnte sie die Reste der Baracken ausmachen, die sich noch bis vor kurzem gegen die Stadtmauern gedrängt hatten. Die Gefahren auf dem Land - manche davon durchaus real, andere auch einfach nur Übertreibungen - hatten dafür gesorgt, dass die Flüchtlinge in die Stadt drängten. Sich mit ihnen und den von ihnen mitgebrachten Krankheiten und Hunger auseinanderzusetzen, beanspruchte noch immer viel von Rands Zeit.
Jenseits der niedergetrampelten Flüchtlingsstadt gab es nur Büsche, verkümmerte Bäume und schattenhafte Reste von zerbrochenem Holz, möglicherweise Wagenräder. Die Felder in der Nähe lagen karg da. Man hatte sie gepflügt und die Saat ausgebracht, trotzdem rührte sich dort nichts. Beim Licht! Warum wuchs Getreide nicht mehr? Wo würden sie diesen Winter nur Nahrung finden?
Aber im Augenblick hielt sie nicht danach Ausschau. Was war es, das Merise gesehen hatte? Wo …
Dann sah sie es. Wie ein paar Schwaden aus Ozeannebel fuhr eine winzige Stelle aus glühendem Licht über den Boden. Sie wuchs und wallte wie eine winzige Sturmwolke, schimmerte mit einem perligen Licht, das den Wolken am Himmel nicht unähnlich war. Sie zog sich zu den Umrissen eines gehenden Mannes zusammen. Dann lösten sich aus dem luminiszenten Nebel weitere Gestalten. Wenige Augenblicke später bewegte sich eine ganze glühende Prozession wie in einem Trauermarsch über den dunklen Boden.
Nynaeve verspürte ein Frösteln, dann rief sie sich zur Ordnung. Möglicherweise waren es ja tatsächlich die Geister der Toten, aber auf diese Distanz bildeten sie keine Gefahr. Trotzdem konnte sie ihre Gänsehaut nicht ungeschehen machen.
Die Prozession war zu weit weg, um viele Einzelheiten erkennen zu können. Sie setzte sich aus Männern und Frauen zusammen, die glühende Kleider trugen, die so flossen und wallten wie die Banner in der Stadt. Die Erscheinungen wiesen keine Farbe auf und waren einfach nur bleich, ganz im Gegensatz zu den meisten der Geister, die in letzter Zeit erschienen waren.
Die hier bestanden nur aus dem seltsamen, jenseitigen Licht. Mehrere Gestalten in der Gruppe - die mittlerweile aus ungefähr zweihundert Personen bestand - trugen ein großes Objekt. Eine Art Sänfte? Oder … nein. Es war ein Sarg. Handelte es sich also um eine Begräbnisprozession aus der Vergangenheit? Was war mit diesen Menschen geschehen, und was hatte sie in die Welt der Lebenden zurückgeholt?
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