Gerüchte in der Stadt besagten, dass die Prozession das erste Mal in der Nacht nach Rands Ankunft in Bandar Eban erschienen war. Das hatten die Mauerwächter, die es am besten wissen mussten, Nynaeve unbehaglich bestätigt.
»Ich weiß wirklich nicht, warum man darum so viel Aufhebens macht«, sagte Merise mit ihrem tarabonischen Akzent und verschränkte die Arme. »Geister - daran sind wir doch alle mittlerweile gewöhnt, oder nicht? Wenigstens lassen die hier keine Menschen schmelzen oder in Flammen ausbrechen.«
Berichte hatten darauf hingewiesen, dass die »Zwischenfälle« immer häufiger vorkamen. Allein in den letzten paar Tagen war Nynaeve drei glaubwürdigen Berichten über Leute nachgegangen, aus deren Haut sich Insekten den Weg frei gegraben hatten, um sie auf diese Weise zu töten. Dann war da noch der Mann gewesen, den man morgens in ein Stück Holzkohle verwandelt in seinem Bett gefunden hatte. Die Laken waren nicht einmal angesengt gewesen. Sie hatte die Leiche selbst gesehen.
Diese Zwischenfälle wurden nicht von den Geistern verursacht, aber man hatte angefangen, die Erscheinungen dafür verantwortlich zu machen. Was vermutlich immer noch besser war, als es Rand anzulasten.
»Dieses Warten in der Stadt ist nervenaufreibend«, fuhr Merise fort.
»Unser Aufenthalt in dieser Stadt scheint keine Ergebnisse zu bringen«, stimmte Corele ihr zu. »Wir sollten weiterreisen. Ihr habt gehört, dass er verkündet, dass die Letzte Schlacht bald beginnt.«
Nynaeve verspürte einen Stich der Sorge für Lan, dann Zorn auf Rand. Er glaubte noch immer, seine Feinde verwirren zu können, wenn er zu der gleichen Zeit angriff, in der Lan seinen Angriff auf den Tarwin-Pass durchführte. Lans Angriff konnte sehr wohl der Beginn der Letzten Schlacht sein. Warum wollte Rand dann keine Truppen abkommandieren, um ihm zu helfen?
»Ja«, sagte Cadsuane nachdenklich, »möglicherweise hat er da recht.« Warum hatte sie immer die Kapuze hochgeschlagen? Rand war offensichtlich nicht in der Nähe.
»Dann haben wir alle einen noch wichtigeren Grund, um weiterzureisen«, sagte Merise streng. »Rand al’Thor ist ein Narr! Und Arad Doman ist irrelevant. Ob König oder nicht, was spielt das für eine Rolle?«
Nynaeve schnaubte. »Die Seanchaner sind nicht irrelevant. Sollen wir zur Großen Fäule marschieren und unsere Königreiche allen Eroberern öffnen?«
Merise reagierte nicht. Corele lächelte und zuckte mit den Schultern, dann warf sie einen Blick zu Damer Flinn, der mit verschränkten Armen an der Mauer lehnte. Die lässige Haltung des älteren Mannes verriet, dass für ihn eine Geisterprozession nichts Ungewöhnliches darstellte. Und in diesen Zeiten mochte er da durchaus recht haben.
Nynaeve schaute wieder zu der Prozession, die die Stadtmauer umrundete. Die anderen Aes Sedai führten ihre Unterhaltung fort, Merise und Corele nutzten die Gelegenheit, ihr Missfallen über Rand auf unterschiedliche Weise kundzutun - die eine mürrisch, die andere freundlich.
Das entfachte in Nynaeve den Wunsch, ihn zu verteidigen. Auch wenn er in letzter Zeit schwierig und unberechenbar gewesen war, hatte er in Arad Doman wichtige Arbeit zu erledigen. Das Treffen mit den Seanchanern in Falme stand unmittelbar bevor. Davon abgesehen hatte er allen Grund, sich Sorgen um die Besetzung des domanischen Throns zu machen. Und was war, wenn sich Graendal tatsächlich hier aufhielt, wie er anzunehmen schien? Die anderen glaubten, er würde sich da irren, aber er hatte in beinahe jedem anderen Königreich Verlorene aufgespürt. Warum nicht auch in Arad Doman? Ein verschwundener König, ein Land, in dem es vor Chaos, Dürre und Krieg brodelte? Diese Dinge klangen genau nach dem Ärger, den man in der Nähe eines der Verlorenen entdecken würde.
Die anderen unterhielten sich weiter. Nynaeve wollte gehen, aber dann bemerkte sie, dass Cadsuane sie beobachtete. Sie zögerte und wandte sich der vermummten Frau zu. Cadsuanes Gesicht war im Fackelschein kaum zu erkennen, aber Nynaeve sah in den Schatten eine Grimasse, als wäre sie über Merises und Coreles Klagen wenig erfreut. Einen Augenblick lang starrten sie sich an, dann schenkte ihr Cadsuane ein knappes Nicken. Die alte Aes Sedai drehte sich um und setzte sich in Bewegung, mitten in einer von Merises Tiraden über Rand.
Die anderen Aes Sedai beeilten sich, sie einzuholen. Was hatte denn dieser Blick zu bedeuten? Cadsuane hatte die Angewohnheit, andere Aes Sedai so zu behandeln, als wären sie weniger Respekt als ein beliebiges Maultier wert. Als wären sie in ihren Augen nur Kinder.
Andererseits, zog man in Betracht, wie sich viele Aes Sedai in letzter Zeit verhalten hatten …
Stirnrunzelnd ging Nynaeve in die andere Richtung und nickte den Mauerwächtern zu. Cadsuanes Nicken würde kaum ein Zeichen des Respekts gewesen sein. Dafür war die Frau viel zu selbstgerecht und arrogant.
Was sollte sie bloß mit Rand machen? Er lehnte ihre Hilfe ab - und die eines jeden anderen -, aber das war nichts Neues. Er war genauso stur wie ein Schafhirte in den Zwei Flüssen, und sein Vater war beinahe genauso schlimm gewesen. Aber das hatte Nynaeve die Dorfseherin nie aufgehalten, also würde es Nynaeve die Aes Sedai erst recht nicht aufhalten. Sie hatte Coplins und Congars niedergerungen; sie konnte das Gleiche bei Rand al’Thor schaffen. Sie verspürte nicht übel Lust, zu seinem neuen »Palast« zu gehen und ihm gehörig die Meinung zu sagen.
Nur … Rand al’Thor war kein Coplin oder Congar. Sture Leute in den Zwei Flüssen hatten nicht Rands seltsam bedrohliche Aura gehabt.
Gefährliche Männer waren nichts Neues für sie. Ihr geliebter Lan war so gefährlich wie ein Wolf auf der Jagd und konnte ebenso kratzbürstig sein, selbst wenn er gut darin war, es vor den meisten Leuten zu verbergen. Aber so bedrohlich und einschüchternd Lan auch sein konnte, er würde sich eher die Hand abhacken, als sie gegen sie zu erheben.
Rand war da anders. Nynaeve erreichte die Treppe, die von der Mauer in die Stadt führte, und stieg sie hinunter, winkte ab, als einer der Wächter vorschlug, sie zu eskortieren. Es war Nacht, und es trieben sich viele Flüchtlinge herum, aber sie war alles andere als hilflos. Allerdings akzeptierte sie von einem anderen Wächter eine Laterne. Mit der Einen Macht Licht zu machen würde den Passanten Unbehagen bereiten.
Rand. Einst hätte sie ihn genauso sanft wie Lan gehalten. Seine Hingabe, Frauen zu beschützen, war in ihrer Unschuld schon beinahe lächerlich gewesen. Diesen Rand gab es nicht mehr. Nynaeve sah wieder den Augenblick vor sich, in dem er Cadsuane verbannt hatte. Sie war fest davon überzeugt gewesen, dass er sie tatsächlich umbringen würde, sollte er jemals wieder ihr Gesicht sehen, und an diesen Augenblick zu denken bereitete ihr noch immer eine Gänsehaut. Sicherlich hatte sie sich das nur eingebildet, aber in diesem Moment schien es in dem Raum dunkler geworden zu sein, als hätte eine Wolke die Sonne verhüllt.
Rand al’Thor war unberechenbar geworden. Sein wütender Gefühlsausbruch ein paar Tage zuvor ihr gegenüber war nur ein weiteres Beispiel gewesen. Natürlich würde er sie nie ins Exil schicken oder bedrohen, ganz egal, was er auch gesagt hatte. So versteinert war er nicht. Oder doch?
Sie schritt von der letzten Steinstufe auf den hölzernen Bürgersteig, der vom Schlamm des Abendverkehrs beschmutzt war. Zu beiden Seiten der Straße drängten sich Menschen. Ladeneingänge und Gassen boten Schutz vor dem Wind.
In der Ferne irgendwo zwischen Flüchtlingen hustete ein Kind. Nynaeve erstarrte, dann hörte sie das Husten erneut. Es klang sehr tief. Vor sich hinmurmelnd überquerte sie die Straße, dann bahnte sie sich einen Weg durch die Flüchtlinge und hob die Laterne, um eine Gruppe müder Leute nach der anderen anzuleuchten. Viele wiesen die kupferfarbene Haut der Domani auf, aber es waren auch viele Taraboner dabei. Und waren das … Saldaeaner? Das kam unerwartet.
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