»Euer Name ist Loral, ist das richtig?«, fragte Nynaeve.
Die Dosun nickte misstrauisch.
»Ihr wisst, dass Aes Sedai nicht lügen?«
Die Haushofmeisterin nickte wieder. Die meisten Aes Sedai konnten nicht lügen, allerdings war Nynaeve durchaus dazu in der Lage, da sie nicht auf den Eidstab geschworen hatte. Nicht zuletzt deshalb hatte sie in den Augen der anderen einen geringeren Status. Was einfach nicht richtig war. Der Eidstab war nur eine Formalität. Leute aus den Zwei Flüssen brauchten kein Ter’angreal, damit sie ehrlich waren. »Dann werdet Ihr mir glauben, wenn ich Euch versichere, dass ich nicht glaube, dass Ihr etwas Falsches gemacht habt. Ich brauche nur Eure Hilfe.«
Die Frau schien sich etwas zu entspannen. »Worum geht es, Nynaeve Sedai?«
»Erfahrungsgemäß weiß die Haushofmeisterin mehr über das, was im Haus vor sich geht, als das Gesinde oder gar die Besitzer. Arbeitet Ihr hier schon lange?«
»Ich diene der Familie Chadmar seit drei Generationen«, verkündete die alte Frau nicht mit geringem Stolz. »Und ich hatte gehofft, noch einer weiteren zu dienen, wäre die Herrin nicht …« Die Frau verstummte. Rand hatte »die Herrin« in ihren eigenen Kerker gesperrt. Das beeinträchtigte die Wahrscheinlichkeit, dass es je noch eine weitere Generation zum Dienen geben würde.
»Ja, nun«, sagte Nynaeve und überbrückte das unbehagliche Schweigen. »Die unglücklichen Umstände mit Eurer Herrin sind ein Teil meiner Aufgabe an diesem Abend.«
»Nynaeve Sedai«, sagte die Frau mit wachsendem Eifer, »glaubt Ihr, Ihr könntet für ihre Freiheit sorgen? Dass sie wieder in die Gunst des Lord Drachen aufgenommen wird?«
»Vielleicht.« Zweifelhaft, fügte Nynaeve in Gedanken hinzu, aber alles ist möglich. »Meine Aktivitäten heute Nacht könnten helfen. Habt Ihr diesen Boten gesehen, den, den Eure Herrin eingesperrt hat?«
»Den vom König?«, fragte Loral. »Ich habe nie mit ihm gesprochen, Aes Sedai, aber ich habe ihn gesehen. Ein großer, hübscher Bursche, für einen Domani seltsamerweise völlig glatt rasiert. Ich bin ihm im Korridor begegnet. Hatte eines der hübschesten Gesichter, das ich je bei einem Mann sah.«
»Und dann?«, fragte Nynaeve.
»Nun, er ging direkt zu Lady Chadmar, und dann …« Loral verstummte. »Nynaeve Sedai, ich will meine Herrin nicht noch in größere Schwierigkeiten bringen …«
»Er wurde zur Befragung geschickt«, sagte Nynaeve knapp. »Für solchen Unsinn habe ich keine Zeit, Loral. Ich bin nicht hier, um Beweise gegen Eure Herrin zu suchen, und es ist mir auch ziemlich egal, wem Eure Loyalität gehört. Hier stehen viel größere Dinge auf dem Spiel. Beantwortet meine Frage.«
»Ja, Lady«, sagte Loral und wurde wieder blass. »Natürlich wissen wir alle, was passiert ist. Es erschien nicht richtig, einen Mann des Königs auf diese Weise zum Befrager zu schicken. Vor allem nicht diesen Mann. Eine echte Schande, ein so schönes Gesicht zu verunstalten.«
»Wisst Ihr, wo der Kerker und der Befrager sind?« Loral zögerte, dann nickte sie widerstrebend. Gut. Dann hatte sie nicht vor, Informationen zurückzuhalten.
»Dann lasst uns gehen«, sagte Nynaeve und stand auf. »Meine Lady?«
»Zum Kerker. Ich nehme nicht an, dass er irgendwo auf dem Gelände ist, nicht, wenn Milisair Chadmar so vorsichtig war, wie ich glaube.«
»Er ist ein Stück entfernt, in Möwenfest«, sagte Loral. »Ihr wollt heute Nacht dahin?«
»Ja«, sagte Nynaeve, dann zögerte sie. »Es sei denn, ich entscheide mich, den Befrager bei sich zu Hause zu besuchen.«
»Es ist derselbe Ort, meine Lady.«
»Ausgezeichnet. Kommt.«
Loral blieb keine Wahl. Nynaeve erlaubte ihr, in ihr Zimmer zurückzukehren und sich anzuziehen - bewacht von einem Soldaten.
Kurze Zeit später führten Nynaeve und ihre Soldaten die Dosun und die vier Bediensteten - sie sollten niemand warnen können - aus dem Haus. Alle fünf sahen nicht sehr erfreut aus. Vermutlich glaubten sie die abergläubischen Gerüchte, dass die Nacht nicht sicher war. Nynaeve wusste es besser. Möglicherweise war die Nacht tatsächlich nicht sicher, aber das war nicht schlimmer als sonst auch. Vielleicht war es sogar sicherer. Waren weniger Leute unterwegs, dann verringerte sich auch die Möglichkeit, dass jemandem Dornen aus der Haut wuchsen oder er anfing zu brennen oder sonst ganz zufällig auf schreckliche Weise starb.
Sie verließen das Anwesen. Nynaeve schritt energisch aus und hoffte, den anderen durch ihre Gegenwart ihre Nervosität nehmen zu können. Sie nickte den Soldaten am Tor zu und schlug dann die Richtung ein, in die Loral zeigte. Ihre Schritte hallten von dem Bürgersteig, und die nächtliche Wolkendecke glühte leicht im Mondschein.
Nynaeve gestattete sich nicht den Luxus, ihren Plan zu hinterfragen. Sie hatte sich für einen Kurs entschieden, und bis jetzt lief alles ausgezeichnet. Sicher, möglicherweise würde es Rands Zorn erregen, dass sie Soldaten abkommandierte und Ärger machte. Aber manchmal musste man das Wasser in einem trüben Regenfass aufwühlen, wenn man sehen wollte, was sich auf seinem Grund befand. Alles war viel zu zufällig. Milisair Chadmar hatte den Boten vor Monaten gefangen genommen, aber er war erst gestorben, kurz bevor Rand ihn sehen wollte. Er war die einzige Person in der Stadt, die eine Ahnung hatte, wo sich der König aufhielt.
Es gab Zufälle. Wenn zwei Bauern sich stritten und eine ihrer Kühe in der Nacht starb, dann konnte das durchaus ein Zufall sein. Und manchmal enthüllten ein paar Nachforschungen das genaue Gegenteil.
Loral führte die Gruppe direkt ins Möwenfest, was man auch als Möwenbezirk bezeichnete; ein Stadtteil, in dessen Nähe die Fischer den Abfall ihres Fangs wegwarfen. Wie die meisten vernünftigen Leute hatte Nynaeve diesen Teil der Stadt gemieden, und ihre Nase erinnerte sie j etzt an den Grund. Fischinnereien stellten ja vielleicht ausgezeichneten Dünger dar, aber Nynaeve konnte die Komposthaufen schon mehrere Straßen zuvor riechen. Selbst die Flüchtlinge mieden diese dunkle Gegend.
Es war ein relativ langer Weg - verständlicherweise befand sich das Reichenviertel weit von Möwenfest entfernt. Nynaeve ignorierte die im Schatten liegenden Gassen und Gebäude, auch wenn ihr Gefolge sich unbehaglich um sie scharte; natürlich abgesehen von den Soldaten. Die Saldaeaner legten stattdessen die Hand auf die Krummschwerter und bemühten sich, in alle Richtungen gleichzeitig zu sehen.
Nynaeve wünschte sich, sie hätte Neuigkeiten aus der Weißen Burg erhalten. Wie lange war es her, dass sie etwas von Egwene und den anderen gehört hatte? Sie kam sich blind vor. Natürlich war es ihr eigener Fehler, weil sie darauf bestanden hatte, Rand zu begleiten, jemand hatte ihn im Auge behalten müssen, aber das bedeutete, alle anderen aus der Sicht zu verlieren. War die Burg noch immer entzweit? War Egwene noch immer die Amyrlin? Was man sich so auf der Straße erzählte, war wenig hilfreich. Für jedes Gerücht, das an ihre Ohren gedrungen war, gab es zwei weitere, die das genaue Gegenteil berichteten. Die Weiße Burg kämpfte gegeneinander. Nein, sie kämpfte gegen die Asha’man. Nein, die Seanchaner hatten die Aes Sedai vernichtet. Oder der Wiedergeborene Drache. Nein, diese Gerüchte waren alles Lügen, die die Burg verbreitete, um ihre Feinde aus der Deckung zu locken.
Man erfuhr nur sehr wenig über Elaida oder Egwene, obwohl Andeutungen über zwei Amyrlin die Runde machten. Das war problematisch. Keine Gruppe Aes Sedai würde gern die Neuigkeit über eine zweite Amyrlin verbreiten. Geschichten über Streit unter den Aes Sedai würde am Ende nur ihnen allen schaden.
Schließlich blieb Loral stehen. Die vier Bediensteten drängten sich mit besorgten Mienen hinter sie. Nynaeve sah die Haushofmeisterin an. »Nun?«
Читать дальше