Sie hob die Lichtkugel und musterte den Keller. Die Wände waren aus Stein, was ihr ein gewisses Unbehagen wegen des Gewichts des über ihnen befindlichen Hauses nahm. Der Boden war aus festgestampfter Erde, und in der gegenüberliegenden Wand befand sich eine Holztür. Triben lauschte daran.
Sie nickte, und er zog sie auf und warf sich eifrig hindurch. Die Saldaeaner schienen von den Aiel schlechte Angewohnheiten zu übernehmen. Nynaeve folgte ihm und bereitete ein paar Luftgewebe vor, nur für alle Fälle. Hinter ihr fingen die mürrischen Kerkerwärter an, die Leiter hinunterzuklettern, gefolgt von Lurts.
In dem anderen Raum gab es nicht viel zu sehen. Zwei Zellen mit dicken Holztüren, einen Tisch mit ein paar Hockern und eine große Holztruhe. Nynaeve schickte ihre Lichtkugel in die Ecke, als Triben die Truhe untersuchte. Er hob den Deckel, legte die Stirn in Falten und holte mehrere funkelnde Messer hervor. Hilfswerkzeuge zur Befragung. Nynaeve fröstelte. Sie schaute die Kerkerwärter hinter ihr finster an.
Sie löste den Knebel bei dem, der gesprochen hatte. »Die Schlüssel?«
»Unten in der Truhe«, sagte der Schläger. Der übergewichtige Kerkerwärter - zweifellos der Anführer, da er ein eigenes Zimmer gehabt hatte - warf ihm einen wütenden Blick zu. Nynaeve stemmte ihn ruckartig in die Luft. »Provoziert mich nicht«, knurrte sie. »Die Nacht ist viel zu weit fortgeschritten, als dass vernünftige Leute noch wach wären.«
Sie nickte Triben zu, und er holte die Schlüssel hervor und öffnete die Zellentüren. Die erste Zelle war leer; in der zweiten befand sich eine mitgenommene Frau, die noch immer ein kostbares Domani-Kleid trug, auch wenn es beschmutzt war. Lady Chadmar war verdreckt und abgerissen, und sie kauerte an der Wand. Sie schien nicht einmal richtig mitzubekommen, dass die Tür offen stand. Nynaeve roch den ersten Hauch eines Gestanks, der bis zu diesem Augenblick von dem Geruch verfaulenden Fisches überdeckt gewesen war. Menschliche Exkremente und ein ungewaschener Körper. Vermutlich war das einer der Gründe dafür gewesen, den Kerker hier in Möwenfest unterzubringen.
Als Nynaeve sah, wie man die Frau behandelte, atmete sie scharf ein. Wie konnte Rand das erlauben? Sicher, die Frau hatte das Gleiche anderen angetan, aber das berechtigte ihn nicht, auf ihr Niveau zu sinken.
Sie gab Triben das Zeichen, die Tür zu schließen, dann setzte sie sich auf einen der Hocker und betrachtete die drei Kerkerwärter. Lurts bewachte den Ausgang und behielt den armen Lehrling im Auge. Der übergewichtige Kerkermeister hing noch immer in der Luft.
Sie brauchte Informationen. Natürlich hätte sie Rand auch um die Erlaubnis bitten können, das Gefängnis am Morgen zu besuchen, aber dann hätte sie riskiert, dass diese Männer vorher von dem Besuch erfahren hätten. Sie verließ sich auf Überraschung und Einschüchterung, um das zu enthüllen, was verborgen geblieben war.
»Also«, sagte sie. »Ich werde jetzt ein paar Fragen stellen. Ihr werdet mir sie beantworten. Ich weiß noch nicht genau, was ich mit euch machen werde, also ist es besser, wenn ihr mir gegenüber ehrlich seid.«
Die beiden Wärter schauten zu dem anderen Mann hoch, der an unsichtbaren Geweben aus Luft unter der Decke schwebte. Sie nickten.
»Der Mann, den man euch brachte. Der Bote des Königs. Wann kam er?«
»Vor zwei Monaten«, sagte einer der Männer - der mit dem großen Kinn und der gebrochenen Nase. »Kam in einem Sack mit Kerzenstummeln aus Lady Chadmars Haus, genau wie alle Gefangenen.«
»Eure Befehle?«
»Ihn festzuhalten«, sagte der andere Wärter. »Ihn am Leben zu halten. Wir wussten nicht viel, äh, Lady Aes Sedai. jorgin ist derjenige, der sich um die Befragungen kümmert.«
Sie schaute zu dem Fetten hoch. »Du bist jorgin?«
Er nickte zögernd.
»Und wie lauteten deine Befehle?«
Jorgin schwieg.
Nynaeve seufzte. »Hör zu. Ich bin Aes Sedai und an mein Wort gebunden. Wenn du mir sagst, was ich wissen will, sorge ich dafür, dass man dich nicht verdächtigt, mit seinem Tod zu tun zu haben. Ihr drei seid dem Drachen völlig egal, sonst würdet ihr längst nicht mehr diesen … Ort betreiben.«
»Wenn wir reden, sind wir frei?«, fragte der Dicke. »Euer Wort?«
Nynaeve schaute sich gereizt in dem kleinen Raum um. Sie hatten Lady Chadmar in die Dunkelheit gesperrt, und die Tür war mit Stoff bedeckt, um Schreie zu dämpfen. Die Zelle würde finster, stickig und eng sein: Männer, die an einem solchen Ort arbeiteten, verdienten kaum zu leben, geschweige denn ihre Freiheit.
Aber hier ging es um ein viel größeres Leiden. »Ja«, sagte Nynaeve voller Bitterkeit. »Und ihr wisst genau, dass das etwas Besseres ist, als ihr verdient.«
Jorgin zögerte, dann nickte er. »Lasst mich herunter, Aes Sedai, und ich beantworte Eure Fragen.«
Sie tat es. Dem Mann war das sicherlich nicht bewusst, aber sie hatte keine große Autorität, auf die sie sich berufen konnte; sie würde sich nicht zu seinen Methoden erniedrigen, um Antworten zu bekommen, und sie handelte ohne Rands Wissen. Möglicherweise würde der Drache gar nicht freundlich reagieren, wenn er ihre Herumschnüffelei entdeckte - es sei denn, sie hatte Neuigkeiten für ihn.
Jorgin sagte zu dem Schläger mit der gebrochenen Nase: »Mort, hol mir einen Hocker.«
Mort sah Nynaeve um Erlaubnis bittend an, die sie mit einem knappen Nicken gewährte. Nachdem Jorgin seine Masse auf dem Hocker platziert hatte, beugte er sich mit verschränkten Händen vor. Er ähnelte einem Käfer, den man auf die Seite gedreht hatte.
»Ich weiß nicht, was Ihr eigentlich von mir wollt«, sagte er dann. »Ihr scheint doch bereits alles zu wissen. Ihr wisst über meine Einrichtung Bescheid und über die Leute, die hier eingesperrt waren. Was gibt es da sonst noch?«
Einrichtung? So konnte man das auch nennen. »Das ist meine Sache«, erwiderte Nynaeve und schenkte ihm einen Blick, der, wie sie hoffte, deutlich machte, dass man die Interessen der Aes Sedai nie infrage stellte. »Verrate mir, wie ist der Bote gestorben?«
»Würdelos«, erwiderte forgin. »Wie alle Männer, meiner Erfahrung nach.«
»Werde genauer, oder du hängst wieder in der Luft.«
»Vor ein paar Tagen öffnete ich die Zellentür, um ihm was zu Essen zu bringen. Er war tot.«
»Und wie lange war es her, dass du ihm das letzte Mal etwas gebracht hattest?«
Jorgin schnaubte. »Ich lasse meine Gäste nicht verhungern, Lady Aes Sedai. Ich … ermuntere sie bloß, mit ihrem Wissen freigebig zu sein.«
»Und wie sehr hast du den Boten ermuntert?«
»Nicht genug, um ihn umzubringen«, wehrte der Kerkermeister ab.
»Oh, bitte«, sagte Nynaeve. »Der Mann ist Monate in deinem Kerker, angeblich die ganze Zeit gesund. Dann stirbt er plötzlich einen Tag, bevor er dem Wiedergeborenen Drachen vorgeführt werden soll? Ich habe dir bereits Straffreiheit versprochen. Sag mir, wer dich bestochen hat, damit du ihn umbringst, und ich sorge für deinen Schutz.«
Der Kerkermeister schüttelte den Kopf. »Ich sage Euch, er ist einfach gestorben. So was kommt eben vor.«
»Ich bin deine Spielchen leid.«
»Das ist kein Spiel, verdammt«, knurrte Jorgin. »Glaubt Ihr, ein Mann käme weit in meinem Handwerk, wenn bekannt wäre, dass man ihn bestechen kann, damit er einen seiner Gäste umbringt? Ihr könntet ihm nicht weiter trauen als einem verlogenen Aiel!«
Sie ließ die letzte Bemerkung durchgehen, auch wenn man einem solchen Mann niemals »trauen« konnte.
»Das war sowieso nicht die Art von Gefangenen, die man umbringt«, fuhr Jorgin fort. »Jeder will wissen, wo der König ist. Warum also den Einzigen töten, der es vielleicht weiß? Der Mann war gutes Geld wert.«
»Also ist er nicht tot«, vermutete Nynaeve. »An wen hast du ihn verkauft?«
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