»Sie ist mit subtraktiver Magie gesichert«, stellte Ann fest. Zedd schickte einen mörderischen Blick in ihre Richtung.
»Erinnert ihr euch an die Schilde, damals im Palast der Propheten?«, wandte sich Richard an sie. »Erinnert ihr euch noch, wie mühelos ich sie passieren konnte?«
Ann nickte. »Ich habe jetzt noch Albträume deswegen.«
Wieder streckte Richard die Hand vor, schnell diesmal, und wieder unterbrach er die Lichtlinie. Sie erlosch erneut.
Dann legte Richard einen Finger seiner anderen Hand auf einen Knotenpunkt, der vor der erloschenen Linie lag. Im Nu gingen weitere Linien aus. Er bewegte seinen ersten Finger, um ihn an einem weiteren Knotenpunkt in die Bahn des Lichts zu halten, arbeitete sich auf diese Weise rückwärts durch das Muster, was zur Folge hatte, dass der Bann sich selbstständig zurückbildete. Die erloschene Linie raste um Nicci herum, traf auf Knotenpunkte, schwenkte abrupt ab, durchlief schwungvolle Bögen und verdunkelte auch diese. Die Linie, die Richard gelöscht hatte, hörte in dem Muster auf zu existieren, und ihre Abwesenheit bewirkte eine Unterbrechung in der Lebendigkeit des Rhythmus.
Die Reaktion der Bannform in ihrem Innern versetzte Nicci in Erstaunen. Sie konnte den Vorgang ihrer Zurückbildung, der sehr an das Schließen der Blütenblätter einer Blume erinnerte, bis ins kleinste Detail nachvollziehen.
Abermals schien der Raum in Niccis Sehvermögen der Gabe zu schimmern, so als flackerte draußen ein Blitz, nur wusste sie, es war kein Blitz.
Die glimmenden Augen zuckten suchend umher, so als spürte auch das Wesen die Schwankungen im Energiestrom, den Richard unterbrochen hatte.
Merkte außer ihr denn niemand, dass Richard seine Gabe benutzte, um diese Schilde zu durchbrechen? Waren sie denn alle blind? Der Gebrauch der Gabe lockte die Bestie doch erst aus der Unterwelt hervor!
Draußen zuckten echte Blitze, krachender Donner ertönte. Das Licht im Raum flackerte - nicht nur wegen der Blitze, sondern auch wegen der Unterbrechung der Energieströme im Innern der Bannform. Die Fensterfront flackerte hin und her zwischen gleißender Helligkeit und pechschwarzer Finsternis.
Nicci fühlte sich, als gingen beide mächtigen Entladungen donnernd mitten durch ihren Körper. Sie begriff nicht, wieso sie überhaupt noch am Leben war. Die einzige Erklärung war, dass Richard den Bann abschaltete, ohne ihn gleichzeitig zu zerstören. Er löschte ihn ganz methodisch, so wie man nacheinander die Dochte einer Reihe von Kerzen erstickte.
Versunken in Konzentration, ließ Richard seine andere Hand weiter nach unten sinken und blockierte eine weitere Linie. Die Linie erlosch und raste durch das komplizierte Geflecht zurück. Sich angesichts der Schwierigkeit des Unterfangens unter großen Mühen vorarbeitend, immer wieder die Arme beugend, um seine neugeborenen Muskeln zu erproben, begann der Schatten der Bestie aus der Unterwelt herauszutreten und sich ein Stück weit in die Welt des Lebens hineinzuwagen. Reißer blitzten im Schein der Lampen auf, als seine Kiefer auseinanderklafften.
Die anderen hatten ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Linien rings um Nicci gerichtet, daher bemerkten sie nichts davon. Richard riegelte ein ganzes Flechtwerk von Linien mit einer Sperre ab und schob behutsam einen Finger dazwischen, um ein davor liegendes Stützwerk abzukoppeln.
Jetzt begann das gesamte Netz, nicht nur seiner wichtigsten Stützkonstruktion, sondern seines inneren Zusammenhalts beraubt, auseinander zufallen. Winkel weiteten sich, Knotenpunkte lösten sich auf, sodass die sie verbindenden Linien schlaff durchhingen. Andere Linien berührten einander, lösten beim Kontakt sprühende Funken gleißend hellen Lichtes aus, die wiederum weitere Linien dunkel werden ließen.
Bis das Geflecht der noch verbliebenen Linien wie ein herabfallender Vorhang völlig unvermittelt in sich zusammenfiel. Nicci konnte fühlen, wie das ihren gesamten Körper durchziehende Energiegeflecht von ihr abfiel. Die herunterfallenden Linien aus Licht stürzten auf die Huldigung und erloschen und waren schon im nächsten Augenblick verschwunden.
Befreit von dem Gewirr, fiel Nicci abrupt auf die Tischplatte und sog wie in einem nach innen gerichteten Schrei keuchend Luft in ihre Lungen. Da ihre Beine nicht die Kraft hatten, sie zu stützen, sackte sie in sich zusammen und rutschte über die Tischkante. Als sie herunterfiel, fing Richard sie in seinen Armen auf. Ihr Gewicht ließ ihn auf ein Knie sinken, doch er konnte das Gleichgewicht wahren, schlang beide Arme um sie und verhinderte so, dass sie auf den Steinfußboden schlug.
Draußen gaben die Blitze jegliche Zurückhaltung auf und erhellten den Raum immer wieder mit Schüben flackernden Lichts. In diesem Augenblick schälte sich die Bestie, ein seelenloses, nur zu einem einzigen Zweck erschaffenes Geschöpf, vollends aus dem Totenreich und trat in die Welt des Lebens ein.
Und stürzte sich geradewegs auf Richard.
Nicci, schlaff und hilflos in Richards Armen hängend, konnte sich anstrengen, so viel sie wollte, sie schaffte es einfach nicht, genügend Kräfte zu mobilisieren, um ihn vor der Bestie zu warnen, die im Begriff war, sich auf ihn zu stürzen. Ihren letzten Atemzug hätte sie dafür hergegeben, diese Warnung auszurichten, nur bekam sie in diesem Augenblick nicht einmal Luft.
Schließlich war es Cara, die sich mit ihrem ganzen Gewicht der attackierenden Bestie entgegenwarf, die ungeheure Wucht des Angriffs ablenkte und Richard vor einem tödlichen Zusammenprall bewahrte. Die Fänge der Bestie schnappten ins Leere, als sie Richard unter lautem Getöse verfehlte, nur ihre Krallen bohrten sich hinten an der Schulter in sein Fleisch. Durch Caras Körpereinsatz aus dem Gleichgewicht gebracht, stolperte die Bestie an Richard vorbei und stürzte Kopf voran in eines der schweren Regale. Knochen, Bücher und Schatullen purzelten in chaotischem Durcheinander zu Boden. Knurrend kam das Wesen, die Reißer gebleckt, die Muskeln angespannt, wieder auf die Beine und richtete sich einen Moment lang zu seiner vollen Größe auf. Es überragte Richard um einen glatten Fuß und war nahezu doppelt so breit in den Schultern. Knochige Wülste markierten seinen buckligen Rücken, und über den Muskeln spannte wie bei einem Leichnam eine dunkle ledrige Haut. Es war ein Wesen, das nicht wirklich lebendig war, obwohl es so reagierte und sich so bewegte. Nicci wusste, dass es keine Seele besaß und deshalb umso gefährlicher war. Es war teilweise aus der Lebenskraft und dem Han - der Gabe - lebender Menschen erschaffen worden und handelte mit der zielstrebigen Entschlossenheit, die ihm von seinen Schöpfern mitgegeben worden war: den Schwestern der Finsternis in Jagangs Gewalt. Als es sich augenblicklich wieder erholte und sofort erneut auf Richard losging, schlug Cara mit ihrem Strafer zu. Die Bestie, von der Waffe offenbar nicht im Mindesten verletzt, hielt gleichwohl schlagartig inne, drehte sich mit schockierender Schnelligkeit und Wucht zu der Mord-Sith herum und schlug ihr den Handrücken so kraftvoll ins Gesicht, dass sie von den Füßen gerissen wurde. Sie prallte gegen ein Bücherregal, das dadurch nach hinten kippte, und kam unter dem Gewirr aus Büchern und zersplittertem Holz nicht wieder hervor.
Als draußen vor den hohen Fenstern ein Blitz flackerte, nutzte Zedd die Gelegenheit, stieß eine Hand nach vorn und entfesselte einen strahlend hellen Energieblitz, der den Raum mit gleißendem Licht erfüllte. Weißglühende Lichtpartikel prallten gegen die dunkle Haut an der Brust der Bestie und hinterließen - als einzigen Beweis für einen Treffer, der sonst keinen echten Schaden angerichtet zu haben schien - einen Kranz aus sich strahlenförmig ausbreitenden Schmauchspuren.
Unterdessen kam Nicci, nachdem Richard sie auf dem Boden abgelegt hatte, gerade wieder so weit zu Kräften, dass sie die dringend benötigte Luft in ihre Lungen zu saugen vermochte. Einen Ellbogen aufgestellt, um sich abzustützen, rang sie keuchend nach Atem. Aus Richards Schulter sah sie Blut hervorsickern und seinen Arm herabrinnen. Noch während er sich aufrichtete, um sich für den Zusammenprall mit seinem Angreifer zu wappnen, griff er nach seinem Schwert, doch es war nicht mehr da, hing nicht mehr an seiner Hüfte.
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