»Zweimal.«
»Zweimal mein Leben gerettet hast«, korrigierte sich der Drache, »bin ich verpflichtet, dir einen Gefallen zu erweisen. Um was bittest du mich?«
»Bring mich hoch zu der fliegenden Zitadelle!« antwortete Tolpan und schickte sich unverzüglich an, auf den Rücken des Drachen zu klettern. Er wurde jedoch am Kragen, der sich in einer Riesenkralle von Khirsah verfangen hatte, in die Luft gehoben. »Oh, danke für den Beistand. Aber ich hätte es auch allein geschafft...« Dann wurde er jedoch nicht auf den Rücken des Drachen gesetzt. Statt dessen fand er sich in Augenhöhe mit Khirsah wieder.
»Das könnte äußerst gefährlich – wenn nicht fatal – für dich werden, Kender«, sagte Khirsah streng. »Das kann ich nicht zulassen. Laß mich dich zu den Rittern von Solamnia bringen, die sich im Turm des Oberklerikers aufhalten...«
»Ich war schon im Turmdes Oberklerikers!« plärrte Tolpan. »Ich muß zur fliegenden Zitadelle! Verstehst du denn nicht, uh, verstehst du denn nicht – Tanis, der Halb-Elf! Du kennst ihn? Er ist dort oben, gerade in diesem Augenblick, und uh – er ließ mich hier zurück, um eine wichtige, uh, Information für ihn einzuholen« – Tolpan beendete hastig den Satz – »ich habe sie jetzt und muß sofort zu ihm.«
»Gib mir die Information«, antwortete Khirsah, »und ich werde sie ihm übermitteln.«
»N...nein, das... uh – d...das funktioniert überhaupt nicht«, stammelte Tolpan und dachte verzweifelt nach. »Es ist... uh – in der Kendersprache! Und – und – es kann nicht in – äh – die Umgangssprache übersetzt werden. Du sprichst – uh – doch nicht die Kendersprache, oder, Feuerblitz?«
»Natürlich«, wollte der Drache gerade erwidern. Aber als er in Tolpans hoffnungsvolle Augen sah, knurrte Khirsah. »Natürlich nicht!« gab er verächtlich zurück. Langsam und sorgfältig setzte er den Kender auf seinen Rücken zwischen die Flügel. »Ich werde dich zu Tanis, dem Halb-Elfen, bringen, wenn das dein Wunsch ist. Ich habe jedoch keinen Drachensattel, da wir ohne Krieger als Reiter kämpfen, darum halte dich gut an meiner Mähne fest.«
»Ja, Feuerblitz«, rief Tolpan hocherfreut, richtete seine Beutel und packte die bronzene Mähne des Drachen mit seinen beiden kleinen Händen. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. »Sag mal, Feuerblitz«, schrie er, »du wirst doch dort oben keine abenteuerlichen Sachen unternehmen – umgekehrt heruntersausen oder direkt zur Erde stürzen – oder? Es ist sicherlich sehr unterhaltsam, aber es könnte vielleicht für mich etwas unbequem sein, da ich ja nicht angegurtet bin oder etwas...«
»Nein«, erwiderte Khirsah lächelnd. »Ich werde dich so schnell und so direkt wie möglich dorthin befördern, damit ich wieder in die Schlacht zurückkehren kann.«
»Ich bin bereit, wenn du bereit bist!« rief Tolpan und trat mit seinen Fersen in Khirsahs Flanken, als der bronzene Drache in die Luft sprang. Von den Windströmungen erfaßt, erhob er sich in den Himmel und glitt über die Stadt Palanthas nach oben.
Es wurde kein vergnüglicher Ritt. Als Tolpan einen Blick nach unten warf, hielt er den Atem an. Fast die gesamte Neustadt stand in Flammen. Da sie evakuiert worden war, strömten die Drakonier unbehelligt durch die Straßen, plünderten und brannten alles systematisch nieder. Die guten Drachen waren in der Lage gewesen, die blauen und schwarzen Drachen vom völligen Zerstören der alten Stadt abzuhalten – damit sie es nicht zerstören konnten wie einst Tarsis —, und die Verteidiger der Stadt hielten den Drakoniern stand. Aber Lord Soths Angriff hatte schwere Verluste gebracht. Tolpan konnte von seinem hohen Aussichtspunkt aus die Leichen von Rittern und ihren Pferden in den Straßen herumliegen sehen wie Zinnsoldaten, die von einem Kind herumgeworfen worden waren. Und noch während er das beobachtete, konnte er Lord Soth sehen, der ungehindert weiterritt, wobei seine Krieger jedes Lebewesen abschlachteten, das ihren Weg kreuzte. Das angsterregende Gejammer der dunklen Hexen tönte durch die Schreie der Sterbenden.
Tolpan schluckte entsetzt. »O je«, flüsterte er, »angenommen, es ist mein Fehler! Ich weiß es aber nicht wirklich. Caramon hat mich ja nicht weiter in dem Buch lesen lassen! Ich habe lediglich angenommen – nein«, beantwortete Tolpan entschlossen seine eigene Frage, »wenn ich Tanis nicht gerettet hätte, dann wäre Caramon im Eichenwald gestorben. Ich tat, was ich tun mußte, und da es solch ein Kuddelmuddel ist, werde ich darüber nicht mehr nachdenken, niemals wieder.«
Dieses Problem hatte er dann auch sehr schnell aus seinem Bewußtsein verdrängt – wie die entsetzlichen Dinge, die er unten auf dem Boden sah —, und so spähte der Kender durch den Rauch, um zu sehen, was im Himmel passierte. Er bemerkte flüchtig eine Bewegung hinter sich und sah einen riesigen blauen Drachen, der sich gerade von der Straße in der Nähe des Eichenwaldes von Shoikan erhob. »Kitiaras Drache!« murmelte Tolpan, als er Skie erkannte. Aber der Drache hatte keinen Reiter. Kitiara war nirgendwo zu sehen.
»Feuerblitz!« rief Tolpan warnend und wand sich, um den blauen Drachen weiter beobachten zu können, der sie gesichtet hatte und jetzt seine Richtung änderte und auf sie zusteuerte.
»Ich bin mir seiner bewußt«, erwiderte Khirsah kühl und warf Skie einen flüchtigen Blick zu. »Mach dir keine Sorgen, wir haben unser Ziel fast erreicht. Ich werde dich dort absetzen, Kender, und mich dann um meinen Feind kümmern.«
Als Tolpan sich wieder umwandte, sah er, daß sie tatsächlich der fliegenden Zitadelle schon sehr nahe waren. Alle Gedanken an Kitiara und blaue Drachen waren sofort ausgelöscht. Die Zitadelle war aus der Nähe betrachtet noch schöner als von unten. Er konnte recht deutlich die riesigen, zerklüfteten Gesteinsbrocken sehen, die unter ihr hingen – Reste des einstigen Fundaments, auf dem sie gebaut worden war.
Magische Wolken brodelten um sie herum und hielten sie am Himmel. Blitze zischten und knisterten zwischen den Türmen. Als Tolpan die Zitadelle selbst betrachtete, sah er riesige Risse, die sich an allen Seiten in den Mauern der Festung hochschlängelten – Schäden, die von der gewaltigen Kraft herrührten, die notwendig war, um das Gebäude aus der Erde zu reißen. Licht strahlte aus den Fenstern der drei hohen Türme der Zitadelle und aus den vorderen offenen Fallgittern, aber Tolpan konnte außen kein Lebenszeichen entdecken. Er hatte jedoch keinen Zweifel, daß sich innen jede Art von Leben aufhalten würde!
»Wohin möchtest du gern gebracht werden?« fragte Khirsah mit Ungeduld in seiner Stimme.
»Es ist alles recht, danke«, erwiderte Tolpan höflich und voller Verständnis dafür, daß der Drache erpicht war, wieder in die Schlacht zurückzukehren.
»Ich glaube allerdings nicht, daß der Haupteingang ratsam ist«, sagte der Drache und machte plötzlich einen Schwenker in seinem Flug. Er legte sich scharf in eine Kurve und kreiste um die Zitadelle. »Ich bringe dich zum hinteren Teil.«
Tolpan wollte sich wieder bedanken, aber sein Magen hatte aus unerfindlichen Gründen plötzlich einen Sprung gemacht, während sein Herz in die entgegengesetzte Richtung gehüpft war, als er durch die kreisende Bewegung des Drachen in der Luft auf die andere Seite geworfen wurde. Dann brachte Khirsah sich wieder in eine horizontale Lage, und als sie nach unten gesaust waren, landete er glatt und ruhig in einem verlassenen Hof. Einen Augenblick war Tolpan beschäftigt, seine Eingeweide wieder zu richten, und dann war er gerade noch in der Lage, vom Drachenrücken herunterzugleiten und in den Schatten zu hüpfen. Gedanken über gesellschaftliche Artigkeiten macht er sich ohnehin nie.
Einmal auf festem Boden (nun ja, eine Art fester Boden jedenfalls), fühlte sich der Kender wesentlich wohler.
»Auf Wiedersehen, Feuerblitz!« rief er und winkte mit seiner kleinen Hand. »Ich danke dir! Viel Glück!«
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