Einer der Gardisten sah auf, blickte Gwenderon fragend an und machte Anstalten, sein Pferd ebenfalls zu zügeln, aber Gwenderon gebot ihm mit einer raschen Geste weiterzureiten, schwang sich aus dem Sattel und trat neben den Waldläufer. Selbst jetzt, nachdem er abgesessen hatte, überragte er Karelian um mehr als Haupteslänge; und das, obwohl er gewiss kein hoch gewachsener Mann war.
Karelian drehte sich wortlos um und verschwand im Unterholz. Obwohl er kaum ein Geräusch verursachte, bewegte er sich doch so schnell, dass Gwenderon Mühe hatte, ihm überhaupt zu folgen und in der unsicheren Dämmerung nicht den Anschluss zu verlieren.
Der Weg verschwand schon nach wenigen Augenblicken hinter einer dichten Mauer aus Grün und Braun in allen nur denkbaren Schattierungen und jetzt verschluckte der Wald auch die Geräusche der Reiter. Alles, was Gwenderon noch hörte, waren seine eigenen Schritte und das Hämmern seines Herzens. Der unsichtbare Flausch aus Stille war ihm gefolgt.
Er schauderte, und für einen Moment wurde das Gefühl so heftig, dass er tatsächlich körperlich fror und spürte, wie eine Gänsehaut den Rücken hinabkribbelte und sich die feinen Härchen auf den Handrücken und im Nacken aufstellten; wie das Fell einer Katze, das gegen den Strich gestreichelt wurde. Der Schwarzeichenwald war seine Heimat – er hatte ihn dazu gemacht, als er vor fast dreißig Jahren in den Dienst König Oros getreten war und ihm Treue geschworen hatte – und trotzdem erfüllte er ihn mit Unbehagen, ja, beinahe mit Furcht, und nicht erst seit heute. Sie waren weit von Hochwalden entfernt, sieben Tagesreisen, und die Wälder, durch die sie ritten, hatten nicht mehr viel mit dem Schwarzeichenwald gemein, der sich rings um die gewaltige Burg Oros und ihre Getreuen erhob. Es war ein Dschungel, beinahe undurchdringlich selbst für jene, die ihn so gut kannten wie Karelian. Hätte es die schmalen, wie mit einem gewaltigen Lineal gezogenen Pfade und Wege nicht gegeben, die – wie die Legende behauptete – vom Wald selbst geschaffen worden waren, damit Mensch und Tier ihrer Wege gehen konnten, ohne den Bäumen Schaden zuzufügen, hätten selbst siebzig Tagesreisen nicht gereicht, hierher zu kommen. Gwenderon hatte von Männern gehört, die verwegen genug gewesen waren, die vorgegebenen Pfade zu verlassen und in den Wald selbst einzudringen, auf der Suche nach Geheimnissen und Gold oder bloß Abenteuern. Keiner von ihnen war zurückgekommen. Nicht aus diesem Teil des Waldes.
Er verscheuchte den Gedanken. Es waren bloß Gerüchte. Die Menschen pflegten nun einmal die Dinge, die sie nicht verstanden, mit Märchen zu umgeben und sie so noch bedrohlicher zu machen, als sie es ohnehin schon waren; die eine, unbekannte Angst gegen die andere, vertraute zu tauschen, gegen die sie sich wenigstens wehren konnten. Aber er sollte nicht auf Gerüchte hören. Er war ein wenig zu alt, um jetzt noch damit zu beginnen.
Der Waldläufer ging langsamer, als er sah, dass Gwenderon nicht so rasch vorankam wie er, und als Gwenderon neben ihn trat, rang er sich sogar zu einem flüchtigen, allerdings kalt blickenden Lächeln durch. Eigentlich, erinnerte sich Gwenderon, hatte er Karelian nie wirklich lachen sehen. Er war sich nicht sicher, ob er es überhaupt konnte.
»Hier«, sagte Karelian. »Seht.«
Gwenderon blickte sich einen Moment verwirrt um, ehe er sah, was Karelian meinte.
Vor ihnen waren Spuren. Es waren zwei Reihen gleichmäßiger, dunkler Abdrücke, tief in den weichen Waldboden eingedrückt und zum Teil mit Wasser gefüllt, das aus dem feuchten Erdreich gesickert war, sodass sie wie kleine blinde Spiegel aussahen. Es musste ein sehr schwerer Körper gewesen sein, der hier entlanggegangen war.
Er sah Karelian stirnrunzelnd an, kniete nieder und fuhr mit den Fingern über die Ränder der Spur. Sie war sehr groß – eine gute Handspanne länger als der Fußabdruck eines normal gewachsenen Mannes – und es war nicht die Spur eines Menschen.
Es waren Abdrücke nackter, vierzehiger Füße, an deren vorderem Rand tiefe, wie mit einem Messer ausgestanzte Löcher sichtbar wurden, als hätten sich furchtbare Krallen in den weichen Boden gegraben.
Gwenderon sah mit einem Ruck auf, als er endlich begriff, welches Wesen Spuren wie diese hinterließ.
»Ein Raett?«, sagte er erschrocken. »Hier?«
Karelian nickte. Sein Gesicht blieb ruhig und ausdruckslos wie immer, aber in seiner Stimme vibrierte ein neuer, fast zorniger Unterton, als er antwortete. »Nicht nur einer«, sagte er. Seine Hand wies nach vorne. Gwenderon folgte der Geste und sah, dass die Spur in einem halb niedergetrampelten Dornenckbusch endete. Der Raett war rücksichtslos durch den Wald gebrochen und hatte dabei alles niedergewalzt, was ihm in den Weg geraten war. Plötzlich verstand er Karelians Zorn. Für ihn musste dieser zertrampelte Busch eine Wunde sein, die dem Wald geschlagen worden war.
»Dort hinten sind mehr Spuren«, fuhr Karelian nach einer Pause fort, die seinen Zorn deutlicher machte als alles, was er hätte sagen können. »Ein Dutzend, vielleicht mehr. Sie folgen uns.«
Gwenderon stand auf und rieb sich die Hände an der Hose, als hätte er sich an der Spur des Raett besudelt. Er zweifelte nicht an der Schlussfolgerung, die Karelian gezogen hatte. Wenn Karelian sagte, sie wurden verfolgt, dann wurden sie verfolgt. »Seit wann?«, fragte er.
Karelian zuckte mit den Achseln. »Die Spur ist keine Stunde alt. Die Ränder sind noch nicht eingesunken und die Erde ist noch feucht. Aber sie sind schon seit Tagen in unserer Nähe.«
»Seit Tagen?« Gwenderon erschrak. »Warum hast du uns nicht gewarnt?«
Karelian lächelte geringschätzig. »Ich hatte keinen Beweis. Diese Spuren sind die ersten, die ich gefunden habe. Ich wusste, dass sie uns folgen, schon seit langer Zeit. Ich kann sie spüren, ganz gleich, wie sorgsam sie sich verborgen halten. Aber Ihr hättet mir nicht geglaubt«, fügte er in abfälligem und – dessen war sich Gwenderon plötzlich sicher – ganz bewusst verckletzendem Tonfall hinzu. Trotzdem waren seine Worte keine Rechtfertigung, sondern eine bloße Feststellung, und Gwenderon widersprach nicht.
»Und … was schließt du daraus?«, fragte er.
»Nicht viel.« Karelian zuckte die Achseln. »Es kann eine wilde Herde sein, die nur zufällig der gleichen Richtung folgt wie wir und hofft, ein paar Abfälle zu finden.«
»Aber das glaubst du nicht wirklich.«
Karelian hielt seinem Blick gelassen stand. »Was ich glaube, spielt keine Rolle«, sagte er. »Es kann harmlos sein – oder auch nicht. Wir müssen Obacht geben.«
Gwenderon nickte. Er hatte keine Angst, aber Karelians Worte erfüllten ihn doch mit einem starken Unbehagen, das sich zu dem gesellte, das er ohnehin schon verspürt hatte. Raetts waren gefährlich und unberechenbar, aber er hatte zwei Dutzend der besten Krieger bei sich, und Karelians scharfe Sinne würden sie frühzeitig vor jeder Gefahr warnen, versuchte er sich selbst zu beruhigen. Aber sie waren nicht allein und er war nicht nur für sein Leben und das seiner Männer verantwortlich.
»Gehen wir zurück«, sagte er. »Die Männer müssen gewarnt werden.« Fast gegen seinen Willen fügte er hinzu: »Glaubst du, dass sie uns angreifen werden?«
»Kaum«, antwortete Karelian nach kurzem Überlegen. »Raetts sind Feiglinge. Und wir sind zwei Dutzend Bewaffneckte. Aber wir sollten vorsichtig sein. Niemand darf sich mehr von der Gruppe entfernen.«
Gwenderon nickte. Karelian sprach längst nicht alles aus, was er dachte. Aber das war auch nicht nötig.
Lautlos wandten sie sich um und gingen nebeneinander zum Weg zurück. Karelian schwieg, und als Gwenderon ihm einen verstohlenen Blick zuwarf, sah er, dass sich auf seinen scharfen Zügen nicht die geringste Regung zeigte. Trotzdem fühlte er die Anspannung, die sich hinter der Maske von Ruhe und scheinbarer Entspanntheit des Waldläufers bemächtigt hatte.
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