»Sie werden uns nichts tun«, erklärte Yalia den Kindern auf dem Dachboden. »Sie werden es nicht wagen. Ganz bestimmt sehen sie sofort, dass ihr alle viel zu klein seid. Sie werden sich eher für jemanden interessieren, der –«
»Hai! Sonea!«, flüsterte Cery rau.
Cery hatte die Beine inzwischen durch das Fenster geschoben und beugte sich herab, um Sonea nach oben zu ziehen.
»Komm schon!«
Sie streckte ihm die Hände entgegen, und mit überraschender Kraft hob Cery sie so weit hoch, dass sie selbst das Sims des Fensters zu fassen bekam. Einen Moment lang hing sie in der Luft, dann zwängte auch sie sich hindurch. Auf der anderen Seite des Fensters angekommen, legte sie sich bäuchlings und atemlos vor Erschöpfung flach auf die kalten Ziegel. Die Luft war eisig und drang ihr sofort durch die Kleider. Sie blickte auf. Ein Meer von Dächern erhob sich vor ihr. Die Sonne hing tief am Himmel.
Cery wollte gerade das Fenster schließen, als er jäh erstarrte. Hinter ihnen wurde die Falltür knarrend wieder geöffnet, dann hörten sie die leisen Stimmen der Kinder, in denen jetzt Angst und Ehrfurcht mitschwangen. Sonea spähte durch das Fenster.
Ein Mann in roten Roben stand neben der geöffneten Falltür und sah sich zornig im Raum um. Sein Haar war hell und lag dicht am Kopf an. An seiner Schläfe leuchtete eine kleine, rote Narbe. Mit hämmerndem Herzen drückte Sonea sich auf das Dach. Der Mann kam ihr irgendwie vertraut vor, aber sie konnte keinen zweiten Blick riskieren.
Seine Stimme drang an ihre Ohren.
»Wo ist sie?«, fragte er scharf.
»Wen meint Ihr?«, erwiderte Yalia.
»Das Mädchen. Man hat mich informiert, dass ich es hier finden würde. Wo habt ihr es versteckt?«
»Ich habe niemanden versteckt«, mischte sich eine ältere Stimme ein. Norin, vermutete Sonea.
»Was hat es mit diesem Haus auf sich? Warum sind diese Bettler hier?«
»Ich lasse sie hier wohnen. Im Winter können sie sonst nirgendwohin.«
»War das Mädchen hier?«
»Ich frage nicht nach ihren Namen. Wenn das Mädchen, das Ihr sucht, bei den anderen war, dann weiß ich nichts darüber.«
»Ich denke, du lügst, alter Mann.« Der Tonfall des Magiers klang jetzt noch um einiges düsterer.
Einige der Kinder begannen zu weinen. Cery zupfte Sonea am Ärmel.
»Ich sage die Wahrheit«, erklärte der alte Kaufmann. »Ich habe keine Ahnung, wer sie sind, aber es sind allesamt Kinder –«
»Weißt du, welche Strafe demjenigen blüht, der Feinde der Gilde versteckt, alter Mann?«, zischte der Magier. »Wenn du mir nicht zeigst, wo du dieses Mädchen verborgen hältst, werde ich dein Haus abreißen lassen, Stein für Stein, und dann…«
»Sonea«, flüsterte Cery.
Sie drehte sich zu ihm um. Er bedeutete ihr, ihm zu folgen, bevor er sich langsam über das Dach schob. Sonea zwang sich dazu, Arme und Beine zu bewegen.
Sie wagte es nicht, sich allzu schnell heruntergleiten zu lassen, weil sie befürchtete, der Magier könnte sie hören. Langsam näherte sie sich der Dachtraufe. Als sie sie erreicht hatte, wandte Sonea den Kopf. Cery war verschwunden. Aus den Augenwinkeln nahm sie eine flüchtige Bewegung wahr, und dann sah sie seine Hände, die die Regenrinne unter ihr umfassten.
»Sonea«, zischte Cery. »Komm mir nach!«
Langsam beugte sie die Knie und ließ sich weiter nach unten rutschen, bis sie der Länge nach neben der Regenrinne lag. Cery hing zwei Stockwerke über dem Boden. Jetzt deutete er mit dem Kopf auf ein eingeschossiges Gebäude gleich neben dem Haus des Kaufmanns.
»Dort wollen wir hin«, sagte er zu ihr. »Beobachte mich und tu dann genau das, was ich tue.«
Cery beugte sich vor und legte die Arme um ein Rohr, das an der Wand entlang von der Dachrinne bis zum Boden hinabführte. Das Rohr knarrte erschreckend, aber Cery kletterte flink hinunter und benutzte die Klammern, mit denen das Rohr an der Hauswand befestigt war. Mit einem einzigen großen Schritt ließ er sich im richtigen Augenblick auf das andere Dach fallen und winkte Sonea von dort aus zu.
Sonea holte tief Luft, klammerte sich an die Regenrinne und ließ sich vom Dach hinunterrollen. Einen Moment lang hing sie in der Luft. Ihre Hände protestierten gegen die ungewohnte Anstrengung, aber dann bekam sie das Rohr zu fassen. So schnell sie konnte, kletterte sie daran bis auf das Dach des anderen Hauses hinunter.
Cery grinste. »Das war doch ganz einfach, nicht wahr?«
Sie rieb sich die Finger, in die sich die scharfen Kanten der Regenrinne eingegraben hatten, und zuckte die Achseln. »Ja und nein.«
»Komm weiter. Lass uns von hier verschwinden.«
Vorsichtig bahnten sie sich einen Weg über das Dach, über das bitterkalter Wind strich. Auf dem Nachbarhaus angekommen, ließen sie sich an einem weiteren Abflussrohr in eine schmale Gasse zwischen den Häusern hinab.
Cery legte einen Finger an die Lippen und setzte sich wieder in Bewegung. Auf halber Höhe der Gasse blieb er stehen, versicherte sich kurz, dass niemand ihnen gefolgt war, und zog ein kleines Gitter aus einer Mauer. Er ließ sich auf den Bauch fallen und zwängte sich geschickt durch die Öffnung. Sonea tat es ihm gleich.
Dunkelheit umfing sie. Soneas Augen gewöhnten sich langsam an das Fehlen von Licht, bis sie die Wände eines engen, aus Ziegelsteinen gemauerten Ganges erkennen konnte. Cery starrte durch die Dunkelheit zu Norins Haus hinüber.
»Armer Norin«, flüsterte Sonea. »Was wird jetzt mit ihm geschehen?«
»Ich weiß es nicht, aber es schaut nicht gut aus.«
Sonea schluckte. »Und das alles ist meine Schuld.«
Er drehte sich zu ihr um. »Nein«, knurrte er. »Es ist die Schuld der Magier – und desjenigen, der uns verraten hat, wer immer es sein mag.« Stirnrunzelnd blickte er den Gang entlang. »Ich würde ja umkehren und herausfinden, wer es war, aber zuerst einmal muss ich dich in Sicherheit bringen.«
Sonea sah ihn an und bemerkte mit einem Mal eine Härte in seinen Zügen, die sie dort noch nie gesehen hatte. Ohne ihn hätten die Magier sie schon vor Tagen gefunden. Ohne ihn wäre sie jetzt wahrscheinlich tot.
Sie brauchte ihn, aber welchen Preis würde er dafür zahlen müssen, dass er ihr half? Er hatte um ihretwillen schon Gefälligkeiten für die Zukunft versprochen und Gefälligkeiten eingefordert, die andere ihm schuldeten. Außerdem riskierte er die Missbilligung der Diebe, indem er ihre Tunnel benutzte.
Und was würde geschehen, wenn die Magier sie fanden?
Wenn Norin schon sein Haus verlor, weil die Magier ihn in Verdacht hatten, sie zu verstecken, was würden sie dann erst Cery antun? »Weißt du, welche Strafe demjenigen blüht, der Feinde der Gilde versteckt, alter Mann?« Sie schauderte und griff nach Cerys Arm.
»Du musst mir ein Versprechen geben, Cery.«
Mit großen Augen starrte er sie an. »Ein Versprechen?«
Sie nickte. »Falls sie uns jemals fangen sollten, musst du so tun, als würdest du mich nicht kennen. Versprich mir das.« Er öffnete den Mund, um zu protestieren, aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Falls sie dich dabei sehen sollten, dass du mir hilfst, dann lauf weg. Lass dich nicht auch noch von ihnen fangen.«
Er schüttelte den Kopf. »Sonea, ich würde niemals –«
»Sag einfach, dass du es tun wirst. Ich… ich könnte es nicht ertragen, wenn die Magier dich meinetwegen töten würden.«
Cerys Augen weiteten sich, dann legte er ihr lächelnd eine Hand auf die Schulter. »Sie werden dich nicht fangen«, erklärte er. »Und selbst wenn sie es tun, hole ich dich zurück. Das verspreche ich dir.«
6
Begegnungen unter der Erde
Auf dem Schild des Bolhauses stand: Das Kühne Messer. Kein ermutigender Name, aber ein kurzer Blick ins Innere der Schankstube hatte einen ruhigen Raum gezeigt. Im Gegensatz zu den Gästen aller anderen Bolhäuser, die Dannyl betreten hatte, wirkten die Leute hier gesittet und unterhielten sich in gedämpftem Tonfall.
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