Unter dem Notdach zog er ihr die nassen Kleider vom Leib und rieb sie trocken, steckte sie dann in eines seiner Hemden. Ihre Lippen waren blau, ihre Haut fast durchsichtig, von einem unirdischen Weiß.
»Ich wußte, du würdest hier sein«, sagte sie. Ihre Augen waren sehr groß, tief blau, blauer, als er sie in Erinnerung hatte, oder vielleicht nur blauer durch den Kontrast ihrer blassen Haut. Früher war sie immer sonnengebräunt gewesen.
»Ich wußte, daß du hierher kommen würdest«, sagte er. »Wann hast du zuletzt gegessen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht geglaubt, daß es hier so schlimm ist. Ich dachte, es wäre Propaganda. Alle denken, es wäre Propaganda.«
Er nickte und zündete den Gasbrenner an. Gehüllt in sein weites Wollhemd, sah sie ihm zu, wie er eine Dose mit Eintopf öffnete und erwärmte.
»Wer sind diese Leute da unten?«
»Squatter [2] Siedler ohne Rechtstitel. Anm. d.Ü.
. Großmutter und Großvater Wiston sind letztes Jahr gestorben. Dieser Haufen tauchte auf. Sie stellten Tante Hilda und Onkel Eddie vor die Wahl: mitmachen oder abhauen. Wanda haben sie nicht einmal diese Wahl gelassen. Sie haben sie behalten.«
Sie starrte ins Tal hinunter und nickte langsam. »Ich wußte nicht, daß es so schlimm ist. Ich habe es nicht geglaubt.« Ohne ihn anzusehen, fragte sie dann: »Und Mutter, Vater?«
»Sie sind tot, Celia. Grippe. Im letzten Winter.«
»Ich habe keine Briefe erhalten«, sagte sie. »Fast zwei Jahre lang keine Briefe. Sie haben uns gezwungen, Brasilien zu verlassen. Aber es gab keine Transportmöglichkeiten nach Hause. Wir gingen nach Kolumbien. Man versprach uns, uns in drei Monaten nach Hause zu schicken. Und dann kamen sie eines Tages, noch vor dem Morgengrauen, und sagten, wir müßten verschwinden. Es gab Unruhen, weißt du.« Er nickte, obwohl sie immer noch auf die Farm hinunterstarrte und ihn nicht sehen konnte. Er wollte ihr sagen, sie solle um ihre Eltern weinen, sie solle schreien, damit er sie in seine Arme nehmen und trösten konnte. Aber sie saß reglos da und redete mit toter Stimme.
»Sie wollten uns haben, uns Amerikaner. Sie beschuldigen uns, sie hungern zu lassen. Sie glauben wirklich, daß hier alles noch in Ordnung ist. Das habe ich auch geglaubt. Niemand hat die Meldungen geglaubt. Und der Mob wollte uns holen. Wir sind in einem kleinen Ruderboot geflohen. Neunzehn waren wir. Man schoß auf uns als wir Kuba zu nahe kamen.«
David berührte ihren Arm, sie fuhr zusammen und zitterte. »Celia, dreh dich um und iß jetzt. Rede nicht mehr. Später. Später kannst du uns alles berichten.«
Sie sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Nie wieder. Ich werde nie wieder davon reden, David. Ich wollte es dir nur sagen, damit du weißt, daß ich nichts machen konnte. Ich wollte nach Hause, und es ging nicht.«
Sie sah nicht mehr ganz so blaugefroren aus, und erleichtert sah er zu, wie sie zu essen begann. Sie war hungrig. Er machte Kaffee, den letzten Rest seiner Ration.
»Soll ich dir von hier berichten?«
Sie schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Ich habe Miami gesehen, die Menschen dort, alle wollten weg, irgend wo anders hin, sie standen tagelang Schlange, sie standen auf den Trittbrettern der Züge. Sie evakuieren Miami. Die Leute fallen tot um auf den Straßen, und man läßt sie einfach liegen.« Sie zitterte heftig. »Erzähle mir jetzt noch nichts.«
Das Gewitter war vorbei und die Nachtluft kühl. Sie schmiegten sich unter einer Decke aneinander und saßen wortlos, tranken ihren heißen, schwarzen Kaffee.
Als die Tasse in Celias Hand zu kippen begann, nahm David sie ihr ab und half ihr sanft, sich auf das Bett niederzulassen, das er bereitet hatte. »Ich liebe dich, Celia«, sagte er zärtlich. »Ich habe dich immer geliebt.«
»Ich liebe dich auch, David. Immer.« Ihre Augen waren geschlossen, über ihren weißen Wangen wirkten die Lider dunkel. David beugte sich über sie und küßte ihre Stirn, zog die Decke um sie fest und betrachtete sie lange, während sie schlief, bevor er sich neben ihr niederlegte.
In der Nacht fuhr sie einmal auf, warf sich stöhnend umher, und er hielt sie in seinen Armen, bis sie sich beruhigte. Sie wachte nicht ganz auf, und die Worte, die sie sagte, waren nicht zu verstehen.
Am nächsten Morgen verließen sie die Eiche und machten sich auf den Weg zur Sumner-Farm. Celia ritt Mike, bis sie zu dem Karren kamen; da zitterte sie schon vor Erschöpfung, und ihre Lippen waren blau, obwohl der Tag heiß war. Im Karren war nicht genug Platz, ihr ein Lager zu bereiten, also polsterte er den hölzernen Sitz mit seinem Schlafsack und der Decke, so daß sie wenigstens ihren Kopf zurücklehnen und ruhen konnte, wenn der Weg nicht zu holprig war. Sie lächelte schwach, als er ihre Beine mit einem weiteren Hemd bedeckte, mit dem, das er getragen hatte.
»Es ist wirklich nicht kalt«, sagte sie in sachlichem Ton. »Der verdammte Virus greift irgendwie das Herz an, glaube ich. Niemand wollte uns aufklären. Meine Symptome haben alle mit dem Kreislauf zu tun.«
»Wie schlimm war es? Wann hast du das bekommen?«
»Vor achtzehn Monaten ungefähr. Kurz bevor sie uns zwangen, Brasilien zu verlassen. Der Virus grassiert in Rio. Dorthin hat man uns gebracht, als wir krank wurden. Nicht viele haben es überlebt. Kaum einer von den späteren Fällen. Die Krankheit wurde im Lauf der Zeit immer gefährlicher.«
Er nickte. »Hier genauso. Etwa in sechzig Prozent aller Fälle tödlich, inzwischen bis zu achtzig Prozent, nehme ich an.«
Ein langes Schweigen entstand, und er dachte schon, sie wäre eingeschlafen. Der Weg bestand nur noch aus zwei Furchen, die allmählich vom Unterholz überwuchert wurden. Schon bedeckte Gras sie fast völlig, nur an den Stellen nicht, wo der Regen die Erde weggewaschen und nur Steine zurückgelassen hatte. Mike ging sehr bedächtig, und David trieb ihn nicht an.
»David, wie viele Menschen sind oben am Nordende des Tales?«
»Jetzt ungefähr hundertzehn«, sagte er. Er dachte: zwei von dreien tot, aber er sagte es nicht.
»Und die Klinik? Ist sie gebaut worden?«
»Sie steht. Walt leitet sie.«
»David, jetzt, wo du fährst und meine Reaktionen nicht beobachten kannst, sag mir, was hier geschehen ist. Wer lebt, wer gestorben ist. Alles.«
Als sie, Stunden später, zum Essen anhielten, sagte sie: »David, bitte liebe mich, bevor der Regen uns wieder durchnäßt.«
Sie lagen unter einer Gruppe gelber Pappeln, und die Blätter raschelten unaufhörlich, obwohl kein Wind zu spüren war. Unter den säuselnden Bäumen wurde ihr eigenes Sprechen zum Flüstern. Sie war so dünn und blaß und innen so warm und lebendig; ihr Körper hob sich seinem entgegen, ihre Brüste schienen zu schwellen, seine Berührung, seine Lippen zu suchen. Ihre Finger waren in seinem Haar, auf seinem Rücken, gruben sich in seine Seiten, waren jetzt stark, dann entspannt und zittrig, um sich wieder zu Fäusten zu ballen, die sich in Krämpfen öffneten; und wie in großer Ferne spürte er ihre Fingernägel, spürte, wie sie in seinen Rücken schnitten, aber fern, fern. Und schließlich war da nur noch das Säuseln der Blätter und dann und wann ein langer, schwerer Seufzer.
»Ich liebe dich seit mehr als zwanzig Jahren. War dir das bewußt?« sagte er nach langer Stille.
Sie lachte. »Weißt du noch, wie ich dir deinen Arm gebrochen habe?«
Später, als sie wieder auf dem Karren saßen, meinte sie mit leiser, trauriger Stimme von hinten: »Wir sind am Ende, nicht wahr, David? Du, ich, wir alle?«
Er dachte, zum Teufel mit Walt, zum Teufel mit den Versprechen, zum Teufel mit der Geheimhaltung. Und er berichtete ihr von den Clones, die sich unter dem Berg entwickelten, in dem Laboratorium tief in der Höhle.
Eine Woche nach ihrer Ankunft auf der Farm begann Celia im Laboratorium zu arbeiten. »Das ist die einzige Möglichkeit, dich überhaupt je zu sehen«, sagte sie zärtlich, als David protestierte. »Ich habe Walt versprochen, zunächst nur vier Stunden täglich zu arbeiten. Okay?«
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