Die mitreisenden Helder schienen typische und zum größten Teil robuste Vertreter ihres Volkes zu sein. Da war eine derbe Bauernfamilie in ihrem Sonntagsstaat — die Frau und zwei Mädchen in weiten Röcken, kleidsamen Miedern und bunten Schürzen, der Mann in einem dunklen, hochgeschlossenen Rock und hellbraunen Beinkleidern, die in glänzenden Stulpenstiefeln steckten, einfach, aber makellos sauber. Mehrere Kaufleute trugen reichere Kleidung aus feinen, wenn auch dezenten Stoffen, und zwei von ihnen reisten augenscheinlich mit ihren Ehefrauen, Darüber hinaus gab es eine Anzahl ehrbar aussehender Männer und Frauen, deren Geschäft nicht ersichtlich war. Alles in allem war es eine ganz und gar zivilisierte und kultiviert aussehende Gruppe, ein keineswegs außerordentlicher Querschnitt durch die Bevölkerung von Heldon und somit ein Tribut an den genetischen Adel des ganzen Volkskörpers.
Alle schienen geistige Bereicherung von der schattigen Waldlandschaft zu beziehen, durch die sie getragen wurden; die Stimmen waren gedämpft, und kein Blick vermochte sich für längere Zeit dem Zauber der ständig wechselnden Bilder unberührter Natur zu entziehen. Die überwältigende Gegenwart von soviel unverseuchtem, gesundem Leben, die bis ins Mystische zurückreichende Geschichte des Landes, die untrennbar mit diesem Wald verknüpft war, erzeugten unter den Reisenden eine andächtige Atmosphäre. Man hätte ein Mutant oder ein seelenloser Dom sein müssen, um den Zauber dieser Landschaft nicht zu empfinden.
»Ich fühle, daß von diesem Waldland eine ungeheure Kraft ausgeht, Bogel«, sagte Feric mit gedämpfter Stimme. »Hier erfahre ich eine unmittelbare organische Verbindung mit dem Ruhm unserer Rassengeschichte. Es ist, als hörte ich im Gesang meiner Gene die Sagen der angestammten Vergangenheit.«
»Es sind seltsame und geheimnisvolle Wälder«, meinte Bogel. »Und seltsame Leute leben heutzutage in ihnen — Banden nomadisierender Jäger, Sammler von Pilzen und Waldkräutern, vereinzelte Räuber und Flüchtlinge. Wenn man den Erzählungen Glauben schenken will, sogar Praktiker der Schwarzen Magie, wie sie in den Zeiten vor dem Großen Feuer verbreitet gewesen sein soll.«
Feric lächelte. »Fürchten Sie die Zauberer und Trolle des Waldes, Bogel?« scherzte er.
»Ich halte nichts von solch abergläubischem Unsinn«, erwiderte Bogel. »Es ist jedoch eine historische Tatsache, daß einige von den Alten in diesen Wäldern überlebten. Und sie müssen überlieferte Kenntnisse und Fähigkeiten bewahrt haben, die anderswo längst in Vergessenheit geraten waren, denn ihre Nachkommen fertigten den Großen Knüppel für Stal Held, der viele Generationen nach dem Feuer lebte. Ich muß zugeben, daß die Vorstellung, Abkömmlinge dieser Leute könnten bis zum heutigen Tag irgendwo in diesen weiten Wäldern ein heimliches Leben führen und die Rückkehr des Feuers planen, mich frösteln macht, obwohl ich recht gut weiß, daß es Hirngespinste sind.«
Darauf verstummte Feric. Niemand mochte an eine Rückkehr des Feuers denken, nicht einmal in der Form müßiger Spekulation. Von jenen wenigen kurzen Tagen des Unheils, die Jahrhunderte zurücklagen, rührten alle großen Leiden her, die die Welt noch immer plagten: genetische Verseuchung der menschlichen Rasse, der Pflanzenund Tierwelt, die ungeheuren radioaktiven Ödländer, die weite Gebiete der Kontinente bedeckten, die Existenz der stinkenden Doms. Die alte Welt war in der Zeit des Feuers gestorben; die neue Welt, die unter qualvollen Geburtswehen entstanden war, war eine bleiche und verkrüppelte Imitation der alten. Wahre Menschen würden die Zeit des Feuers verfluchen, solange die Rasse überlebte.
Aber eines Tages, und innerhalb seiner eigenen Lebensspanne, sollte den wahren Menschen der Weg zu einem neuen goldenen Zeitalter eröffnet werden; dies gelobte sich Feric feierlich, als der Dampfwagen ihn durch die schattige grüne Zauberwelt des Smaragdwaldes nordwärts trug.
Der Tag neigte sich zum Abend, und wo der Sonnenschein hinreichte, fielen lange schwarze Schatten über den Wald, während sich das Dämmerlicht unter dem dichten Laubdach unmerklich vertiefte, als zögen graublaue Schleier, die Formen und Farben subtil veränderten, unsichtbar durch die Tiefen des Waldes. Die Sonne war noch nicht untergegangen, als das Waldesinnere schon in Nacht verdämmerte. Die Fantasie bevölkerte den Wald mit ihren bizarren Schattengestalten und Ängsten, doch konnte man nicht sagen, daß das Dämmerlicht den Wald seiner Schönheit beraubte; weit davon entfernt, vermehrte es den geheimnisvollen Zauber und die stille Großartigkeit des Waldes, mochte dieser Zauber jetzt auch von einer wilderen und dunkleren Art sein.
Der Dampfwagen bewegte sich wie im Raum und Zeit isoliert durch den Wald; nichts schien real als die dämmernden Tiefen zwischen den mächtigen Stämmen, durch die er gleich einem ängstlichen Tier zu schlüpfen schien, das sich aus seinem natürlichen Element in eine fremde und unbekannte Welt verirrt hat.
Doch als der Dampfwagen langsam durch eine scharfe Biegung fuhr, wurde diese Stimmung mystischen Losgelöstseins plötzlich jäh zerstört. An der Straßenböschung lag der rote Motorwagen, der Stunden zuvor so eindrucksvoll an dem Dampfwagen vorübergejagt war, wie das Gehäuse eines riesigen toten Käfers auf dem Rücken, die Reifen zu Streifen zerhackt, das Chassis verbogen, aufgerissen und von Einschußlöchern durchsiebt. Von den Insassen, mochten sie tot oder lebendig sein, war nichts zu sehen.
Aufgeregtes Stimmengewirr erfüllte den Passagierraum des Dampfwagens, als der Fahrer mit zischenden Bremsen neben dem Wrack anhielt. Darauf folgte rasch ein beklommenes Stillschweigen, als klar wurde, daß jemand die überlebenden oder toten Opfer des Überfalls entfernt hatte.
»Offensichtlich das Werk von Straßenräubern«, sagte Bogel. »Leider kein allzu ungewöhnliches Ereignis in diesen Gegenden.«
»Glauben Sie, daß wir in Gefahr sind, angegriffen zu werden?« forschte Feric. Er verspürte keine Furcht, nur eine seltsame Erregung, die ihm selbst nicht recht erklärlich war.
»Das ist schwer zu sagen«, antwortete Bogel. »Es ist eine Sache, einen kleinen Motorwagen zu überfallen, aber eine ganz andere, einen Dampfwagen des Linienverkehrs anzuhalten. Nur die Schwarzen Rächer mit ihren Motorrädern wären dazu fähig, und soviel ich weiß, sind sie vor allem an Petroleum interessiert. Darum würden sie kaum einen Dampfwagen angreifen.«
Der Fahrer zeigte keine Neigung, die Tür zu öffnen oder gar von seinem Sitz herunterzuklettern, um das umgestürzte Fahrzeug genauer zu besichtigen; wer immer diesen Überfall verübt hatte, mochte noch in der unmittelbaren Nachbarschaft auf der Lauer liegen. Nachdem er das Wrack aus der Sicherheit des Dampfwagens in Augenschein genommen und sich überzeugt hatte, daß es keine Überlebenden gab, löste er die Bremsen, ließ Dampf in die Maschine, und das Fahrzeug setzte seine Reise fort. Unter den Passagieren hatte sich eine Stimmung gespannter Besorgnis ausgebreitet, hier und dort gemischt mit entschlossener Standfestigkeit, wie es sich für gute Helder geziemte.
Der Dampfwagen setzte seine Fahrt ungestört fort, und die Atmosphäre in der Passagierkabine entspannte sich allmählich, als die Minuten vergingen, ohne daß sich widrige Ereignisse ankündigten. Weiter voraus kreuzte die Straße zwischen zwei Hügeln das Trockenbett eines Baches, das sich wie ein unebener natürlicher Weg in der dämmerigen Tiefe des Waldes verlor.
Als der Dampfwagen diese Stelle passierte, übertönte plötzlich ein gewaltiger Lärm das leise, gleichmäßige Schnaufen der Dampfmaschine: ein ohrenbetäubendes Brüllen, das jedes Materiemolekül im weiten Umkreis in widernatürliche Vibrationen zu versetzen schien.
Auf einmal brach eine Horde von fantastischen Maschinen mit unglaublicher Geschwindigkeit aus dem Wald hervor, Steine und Erdbrocken in die Luft schleudernd und das furchtbare Brüllen wie eine unmenschliche Heroldsfanfare vorausschickend. Jede Maschine bestand aus zwei großen Rädern, verbunden durch ein Rahmenwerk aus Stahlrohren. Ein heulender Petroleummotor direkt zwischen den Beinen des Fahrers trieb das Hinterrad über eine Kette an. Das Vorderrad wurde in einer drehbaren Steuergabel gehalten, deren weitauseinanderzweigende obere Partie in Handgriffen endete, die der Fahrer umklammert hielt. Mehr als vierzig dieser Motorräder tauchten aus der tiefen Dämmerung auf, und jedes war nach dem persönlichen Geschmack seines Besitzers bemalt und verziert — mit glänzender Emaillearbeit in Rot, Schwarz oder Weiß; mit blitzenden Chromschilden, Umrahmungen und barockem Gitterwerk; mit mächtigen Sitzen, gepolstert und mit Leder oder Samt bezogen; mit verchromten Rohren und extravaganten Metallschwänzen über den Hinterrädern, die in Ausführung und Bemalung alle Arten von Fischen und Vögeln andeuteten. Es war ein unglaubliches Spektakel von Lärm, Bewegung, Machtentfaltung und bizarrer Formensprache, in der das edle Zeichen des Hakenkreuzes wie ein einigendes Emblem vorherrschte.
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