»Sehen Sie dort!« rief Bogel plötzlich aus. Feric schreckte aus seiner Landschaftsbetrachtung auf, wandte sich um und sah, daß Bogel zum rückwärtigen Fenster des Passagierabteils hinaus auf etwas zeigte, was den Dampfwagen mit unglaublicher Geschwindigkeit zu überholen sich anschickte. »Ein Motorwagen!« triumphierte Bogel. »Ich wette, Sie haben dergleichen in Borgravia nicht gesehen!«
Feric wußte von diesem Wunder der Technik, hatte jedoch nie eins gesehen. Anders als Dampfwagen, die mit überall erhältlichem Holz betrieben wurden, wurde der Motorwagen von einem sogenannten Verbrennungsmotor angetrieben, der Petroleum als Brennstoff benötigte. Der Grundstoff zu dieser Flüssigkeit mußte mit bewaffneten Schiffskonvois aus den Wildnissen des Südens herbeigeschafft oder von den widerwärtigen Einwohnern Zinds erworben werden; beides war mit hohen Kosten verbunden. Aber der Motorwagen war ein Fahrzeug, das unglaublicher Geschwindigkeiten fähig war, die an einhundertfünfzig Stundenkilometer heranreichten, wenn es auch einen teuren Treibstoff von großer Seltenheit verbrauchte. In Borgravia wurden solche Maschinen nur in dem halben Dutzend Flugzeugen verwendet, die das Land besaß, oder für die Fahrzeuge der höchsten Regierungsbeamten. Feric hatte gehört, daß solche Motorwagen in der höheren Zivilisation Heldons zahlreicher seien, schätzte sich aber glücklich, schon so früh auf seiner Reise den Anblick eines solchen Fahrzeugs geboten zu bekommen.
Wenige Augenblicke später hatte der Motorwagen sie eingeholt und sauste, weit zur Seite ausweichend, am Dampfwagen vorbei. Feric sah ein Fahrzeug, das ein Viertel der Länge des Dampfwagens hatte, etwa ein Drittel seiner Höhe und die Hälfte seiner Breite, mit einer langen Verkleidung vorn, dann einem offenen Führerstand mit einem Fahrer in grauer und schwarzer Regierungsuniform und schließlich einer kleinen geschlossenen Kabine, in der nicht mehr als sechs Passagiere Platz finden konnten. Das ganze Fahrzeug war rot und schwarz lackiert und bot einen wahrhaft prächtigen Anblick, als es längsseits kam, einen Fanfarenton vernehmen ließ und mit einem dumpfen Aufbrüllen schnell vorbeizog, um bald darauf weit voraus außer Sicht zu kommen, wo die Straße in den Smaragdwald eintrat.
»Eines baldigen Tages müssen wir einen dieser Wagen für die Fahrten durch das Land anschaffen«, sagte Feric. »Das ist die Art und Weise, wie ein Führer reisen sollte! Mit Geschwindigkeit und Stil und Eleganz!«
»Petroleum ist unglaublich teuer«, meinte Bogel bekümmert. »Wie die Dinge jetzt stehen, würde es die Parteikasse ruinieren, wenn wir ein Jahr lang einen Motorwagen führen.«
»Nicht, wenn wir über die Ölfelder des südwestlichen Zind verfügten«, murmelte Feric in Gedanken.
»Was?«
Feric lächelte. »Ich denke an die Zukunft, Bogel«, sagte er. »An eine Zukunft, in der ganz Heldon von großartigen Straßen durchzogen und verbunden ist und selbst Helder mit bescheidenem Einkommen es sich leisten können, Motorwagen zu fahren, eine Zukunft, in der die großen Ölfelder des südwestlichen Zind unser privates Petroleumreservoir sind.«
Bogel machte große Augen. »Sie träumen heroische Träume, Feric Jaggar!« sagte er.
»Das neue Zeitalter wird noch weit heroischer sein als meine gegenwärtigen Träume, Bogel. Um dieses neue Zeitalter Wirklichkeit werden zu lassen, müssen wir eine wahrhaft heroische Rasse werden. Und wenn wir es geschafft haben, werden wir in der Art und Weise leben, die einer solchen Rasse von Übermenschen angemessen ist.«
Bald hatte der Dampfwagen den Smaragdwald erreicht. Die Landstraße führte am rechten Ufer eines klaren, rasch dahinströmenden Flusses entlang, der sich in sanften Windungen durch die liebliche Parklandschaft der Tiefebene zog. Der Fahrer des Dampfwagens war gezwungen, die Geschwindigkeit auf etwa fünfzig Stundenkilometer zu verringern, um das Fahrzeug in den schärferen Kurven auf der Straße zu halten. Diese gemessenere Geschwindigkeit setzte Feric instand, diesen berühmten jungfräulichen Wald in Muße zu betrachten.
Die einzelnen Bäume waren von ehrwürdigem Alter, und ihre borkigen Stämme und Äste von der Natur zu mannigfaltigen Gestalten geformt und von einem dichten dunkelgrünen Laubdach überwölbt. Diese alten Bäume schienen sorgsam auf Distanz bedacht, so daß man relativ leicht durch den Wald gehen konnte, vom Laubdach gegen die Sonne beschirmt und umgeben von den tiefen grünen Schatten eines geheimnisvollen Halbdunkels. Das Unterholz bestand hauptsächlich aus Farnen, niedrigen Büschen und nachwachsenden Jungbäumen. Lange Gräser und Stauden bedeckten den Waldboden, durchsetzt von moosigen Stellen, wo Pilze und Waldorchideen gediehen. Dieser Wald hatte nichts von der krebsartig wuchernden Fülle obszön mutierter, bläulich gefleckter Vegetation, welche die über das Land verstreuten Inseln des borgravischen Strahlungsdschungels kennzeichnete und zu schrecklichen und undurchdringlichen Orten machte, von Lebewesen bewohnt, deren Anblick hinreichte, einem abgehärteten Mann den Magen umzudrehen.
Die Bäume des Smaragdwaldes waren genotypisch rein; dieses Waldgebiet hatte die Zeit des Feuers wie durch ein Wunder praktisch unversehrt überlebt, mit gesundem, unverseuchtem Boden. Das Alter des Waldes war unbekannt; er war viel älter als das Staatsgebilde von Heldon, hatte möglicherweise schon vor dem Auftreten des wahren menschlichen Genotyps in dieser Form existiert. Alte Volkserzählungen wollten wissen, daß die menschliche Rasse aus diesem Wald hervorgegangen sei.
Das mochte Aberglaube sein, aber es war eine Tatsache, daß nach dem Feuer hier im Smaragdwald kleine Trupps echter Menschen überdauert und alle Mutanten erschlagen hatten, die leichtsinnig genug gewesen waren, in den Wald einzudringen, bis sie von Stal Held im Königreich Heldon vereinigt worden waren. Im Laufe der Generationen hatten die Helder ihr Gebiet langsam über den Wald hinaus ausgedehnt und die umliegenden Tiefländer von Mutationen gereinigt, bis Heldon die Grenzen erreichte, die es bis in die moderne Zeit im wesentlichen bewahrt hatte. Hierher, in das angestammte Kernland, war Sigmark IV. geflohen, als er sich während des Bürgerkriegs hatte zurückziehen müssen, und die Legende wollte wissen, daß er an einem geheimen Ort im Smaragdwald das Reichszepter verborgen habe, den Großen Knüppel des Begründers Held, bis eines Tages ein würdiger Nachfahre von königlichem Geblüt wieder die legendäre Waffe aufnehmen und seine Ansprüche auf den Thron geltend machen würde. Darauf waren Sigmark IV., sein Hof und der königliche Stammbaum nach und nach in den Nebeln der Geschichte verschwunden.
Ja, der Smaragdwald war voll von Legenden, die bis in die Zeit vor dem Großen Feuer zurückreichten und einen besonderen Platz in der Geschichte und in der Volksseele von Heldon einnahmen. Feric schämte sich nicht der Ehrfurcht, die er an diesem Ort empfand. Der Ruhm der Vergangenheit, überliefert in den Legenden des Waldes, war überall um ihn her fühlbar, und zwischen dem Vermächtnis der glorreichen und zuweilen düsteren Geschichte, die hier ihren Schauplatz gehabt hatte, und der Tatsache des Waldes selbst — einer Insel unberührter Natur, die das radioaktive Feuer wie durch ein Wunder unversehrt überlebt hatte und zur Keimzelle Heldons geworden war —, spürte Feric das lebendige Versprechen, daß die Kräfte der genetischen Reinheit eines Tages die ganze Welt wiedergewinnen würden.
»Herrlich, nicht wahr?« flüsterte Bogel.
Feric nickte schweigend, und der Dampfwagen rollte weiter in die Tiefen des erhabenen Waldes.
Als die Sonne ihren Scheitelpunkt überschritten hatte, verteilte die Reisebegleiterin eine Mahlzeit aus Schwarzbrot, kalter Wurst und Bier. Der Dampfwagen war jetzt tief im Wald; die Landstraße wand sich durch dichtbewaldetes Bergland, und während die Passagiere aßen, konnten sie wiederholt Hasen, Rehe und Hirsche beobachten. Von Zeit zu Zeit blickte Feric zu seinen Mitreisenden, doch war bisher noch kein Wort zwischen ihnen gewechselt worden. Offenbar war es in Heldon nicht der Brauch, daß Reisende sich einander aufdrängten — ein willkommener Kontrast zu dem lärmenden und vulgären Durcheinander in borgravischen Transportmitteln.
Читать дальше