Das Gefühl war so stark, daß sie nur einen verwirrten Augenblick lang glaubte, seine Gefühle aus der fernen Wohnhöhle wahrzunehmen. Nein! Er war hier, hier unten in den HartHöhlen ganz in ihrer Nähe!
Aber was wollte er hier? Verfolgte er sie? Wollte er sich hier mit ihr streiten? War er so dumm, sich an die Hartlinge zu wenden? Dua hätte es nicht ertragen…
Und dann schwächte sich das kalte Entsetzen ab und machte schierem Erstaunen Platz. Tritt dachte überhaupt nicht an sie! Er war sich ihrer Gegenwart überhaupt nicht bewußt. Sie erspürte in ihm nur eine überwältigende Entschlossenheit, vermischt mit Angst und Sorge um etwas, das er tun wollte.
Dua hätte jetzt weiter vordringen und in Erfahrung bringen können, was er da tun wollte und warum — doch nichts lag ihr in diesem Augenblick ferner. Da Tritt von ihrer Anwesenheit nichts ahnte, hatte sie nur eins im Sinn — daß sie weiter unbemerkt blieb.
Was sie nun tat, war eine reine Reflexhandlung, etwas, das sie eben noch für völlig unmöglich gehalten hätte.
Daß es dazu kam, lag vielleicht auch (wie sie sich hinterher überlegte) an ihren Erinnerungen an das Mädchengeschwätz mit Doral und an ihren frühen Versuchen mit Felsreiben. (Es gab ein kompliziertes Erwachsenenwort dafür, das sie tausendmal unangenehmer fand als das Wort, das sie als Kinder immer benutzt hatten.)
Ohne zu wissen, was sie da tat, ohne sofort zu merken, was sie getan hatte, floß sie einfach in die nächste Wand.
In die Wand! Restlos!
Das Entsetzen, das dieser Vorgang in ihr auslöste, wurde sofort gemäßigt durch die vollkommene Art und Weise, mit der er seinen Zweck erfüllte. Tritt kam fast in Reichweite vorbei und merkte überhaupt nicht, daß er an einer Stelle nur einen Ausläufer hätte auszustrecken brauchen, um seinen Mittling zu berühren.
Die Frage, was Tritt hier in den Hart-Höhlen tat, wenn er sie nicht verfolgte, war nun plötzlich völlig nebensächlich.
Sie vergaß Tritt überhaupt.
Sie war vielmehr von höchstem Erstaunen über ihre Lage erfüllt. Selbst als Kind war sie niemals völlig mit einem Felsen verschmolzen und hatte auch niemanden gekannt, der so etwas zugegeben hätte (obwohl natürlich Geschichten dieser Art kursierten). Auf keinen Fall hatte ein erwachsener Gefühlsling jemals so etwas getan und war auch nicht in der Lage dazu. Dua war ungewöhnlich durchscheinend (wie ihr Odeen immer wieder stolz bestätigte), was durch ihre mangelnde Ernährung (wie Tritt oft sagte) nur noch gefördert wurde.
Was sie da eben getan hatte, war ein handfesterer Beweis für ihre Dürre als jede denkbare Schelte ihres Rechtslings, und einen Augenblick lang schämte sie sich, und Tritt tat ihr wirklich leid.
Doch dann überflutete sie eine noch heftigere Scham. Wenn sie nun erwischt wurde? Sie, eine Erwachsene…
Wenn etwa ein Hartling vorbeikam und stehenblieb… Sie konnte unmöglich aus dem Felsen hervorkommen, wenn jemand zuschaute. Aber wie lange konnte sie bleiben? Und wenn sie nun entdeckt wurde?
Und noch während sie darüber nachdachte, spürte sie die Hartlinge und erkannte dann auch, daß sie weit entfernt waren.
Sie hielt inne, versuchte sich zu beruhigen. Das Gestein, das sie umgab und durchdrang, legte einen grauen Schimmer über ihre Wahrnehmung, ohne sie sonst im geringsten zu beeinträchtigen. Eher war alles noch deutlicher. Sie spürte noch immer Tritts geruhsamen Marsch nach unten, als ginge sie neben ihm, und sie erfühlte die Hartlinge, obwohl sie sich im nächsten Höhlenkomplex aufhielten. Sie sah die Hartlinge, jeden einzelnen von ihnen, jeden an seinem Platze, und spürte die Vibrationen ihres Gesprächs, und sie erfaßte sogar bruchstückweise, was da gesprochen wurde.
Noch nie waren ihre Wahrnehmungen so deutlich gewesen.
Obwohl sie den Fels nun also ohne Sorge verlassen konnte, daß sie beobachtet wurde, blieb sie an Ort und Stelle; teilweise vor Erstaunen, teilweise aus Freude über ihre seltsame Fähigkeit und aus dem Wunsch heraus, das Neue weiter zu erproben.
Ihr gesteigertes Empfindungsvermögen ließ sie sogar erkennen, warum sie das alles erspürte. Odeen hatte ihr immer wieder gesagt, wie leicht ihm nach einem Verschmelzen das Begreifen fiel, auch wenn er vorher überhaupt nichts verstanden hatte. Der Zustand des Verschmelzens brachte also eine unglaublich erhöhte Empfindsamkeit — es wurde mehr absorbiert, mehr verarbeitet. Das alles lag an der größeren Atomdichte während des Verschmelzens, hatte Odeen gesagt.
Obwohl Dua nicht sicher war, was »größere Atomdichte« bedeutete, wußte sie, daß sich dieser Zustand beim Verschmelzen ergab, was ihrer derzeitigen Lage nicht unähnlich war, hatte sie sich doch mit dem Gestein verschmolzen.
Wenn die Triade verschmolz, flössen alle Wahrnehmungsimpulse Odeen zu. Der Denkling absorbierte sie, gewann an Intelligenz und behielt das neue Begriffsvermögen auch nach der Trennung bei. Aber hier stellte nun Dua das einzige Bewußtsein. Nur sie und das Gestein waren beteiligt. Von der »größeren Atomdichte« (die es doch hier gewiß gab) konnte also nur sie profitieren.
(Wurde das Felsreiben deshalb als Perversion angesehen? Wurden deshalb die Gefühlslinge davor gewarnt? Oder lag es nur an Duas besonders durchscheinender Substanz, daß sie in den Felsen eindringen konnte? Oder weil sie ein LinksG war?)
Doch nun gab Dua die wilden Vermutungen auf und konzentrierte sich fasziniert auf ihre Sinne. Sie merkte nur nebenbei, daß Tritt zurückkehrte, an ihr vorbeiging und in die Richtung verschwand, aus der er gekommen war. Sie merkte nur nebenbei ohne die geringste Überraschung zu empfinden, daß auch Odeen aus den Hart-Höhlen heraufkam. Sie konzentrierte sich völlig auf die Hartlinge und versuchte ihren Wahrnehmungssinn noch besser wirken zu lassen, versuchte das Beste daraus zu machen.
Erst spät löste sie sich aus dem Gestein und schwebte wieder frei. Und da war es ihr gar nicht mehr so wichtig, ob sie nun beobachtet wurde oder nicht. Sie verließ sich schon so weit auf ihre neue Fähigkeit, daß das nicht der Fall sein würde.
Gedankenverloren kehrte sie nach Hause zurück.
Odeen kehrte nach Hause zurück, wo Tritt bereits auf ihn wartete. Dua war noch nicht da. Tritt schien sich darüber nicht weiter aufzuregen. Er war zwar aufgeregt, aber nicht darüber. Seine Gefühle strahlten so stark, daß Odeen sie deutlich wahrnahm; doch er ging ihnen nicht weiter nach. Duas Abwesenheit machte Odeen unruhig; und es wurde bald so schlimm, daß ihn Tritts Anwesenheit ärgerte, nur weil Tritt nicht Dua war.
Das überraschte ihn. Er konnte nicht leugnen, daß ihm eigentlich Tritt lieber war als Dua. Im Idealfalle bildeten die Mitglieder einer Triade eine Einheit, in der jedes Mitglied die anderen beiden genau gleich behandelte. Doch kannte Odeen keine Triade, in der das der Fall war; am wenigsten in den Gemeinschaften, die sich in dieser Beziehung lautstark als vollkommen bezeichneten. Einer der drei stand im allgemeinen etwas außerhalb und wußte das meistens auch.
Allerdings war es selten der Gefühlsling. Die Gefühlslinge halfen sich über die Grenzen der Triaden hinweg gegenseitig — was Denklinge und Elterlinge niemals taten. Der Denkling hat seine Lehrer, lautete ein Sprichwort, und der Elterling seine Kinder — doch der Gefühlsling hat alle anderen Gefühlslinge.
Die Gefühlslinge unterhielten sich oft über ihre Erlebnisse, und wenn einer eine Vernachlässigung anzeigen konnte, wurde er mit genauen Anweisungen nach Hause geschickt, wo er die Stellung behaupten und Forderungen anmelden mußte! Und da das Verschmelzen sehr vom Gefühlsling und seiner Einstellung abhing, wurde von Links und Rechts gewöhnlich schnell nachgegeben.
Aber Dua war ein so untypischer Gefühlsling! Es schien ihr gleichgültig zu sein, daß sich Odeen und Tritt so nahestanden, und sie hatte keine guten Freundinnen unter den anderen Gefühlslingen, die ihr diese Gleichgültigkeit ausgetrieben hätten. Ja, das war es: Dua war ein so untypischer Gefühlsling. Odeen mochte es sehr, wenn sie sich für seine Arbeit interessierte, und freute sich über ihren Einsatz und ihre erstaunliche Lernfähigkeit; aber das war nur eine intellektuelle Liebe. Seine tieferen Gefühle galten dem geradlinigen, dummen Tritt, der seinen Platz genau kannte und der außer dem absolut Notwendigen so wenig zu bieten hatte — die Sicherheit bewährter Routine.
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