»Kann schon sein«, erwiderte Mitch, »aber nur so ungefähr. Wo wir jetzt sind, ist die Luft ziemlich dünn.«
»Wie auf einem Berg.«
»Ich mag Berge nicht besonders.«
»Ach, ich schon«, erwiderte Kaye. Die Abhänge und weißen Gipfel des Kazbeg fielen ihr ein. »Sie schenken einem Freiheit.«
»Ja, ja«, erwiderte Mitch. »Du springst, und dann hast du dreitausend Meter reine Freiheit.«
Während er die Rechnung bezahlte, ging Kaye zur Toilette. Aus einem Impuls heraus holte sie ihre Telefonkarte und einen Zettel aus der Brieftasche und nahm den Hörer des Kartentelefons ab.
Sie rief Mrs. Luella Hamilton in Richmond in Virginia an. Die Nummer hatte sie sich doch noch von der Telefonzentrale der Klinik besorgt.
Eine tiefe, weiche Männerstimme meldete sich.
»Entschuldigen Sie bitte, ist Mrs. Hamilton zu Hause?«
»Wir sind schon beim Abendessen. Wer spricht denn da?«
»Kaye Lang. Dr. Lang.«
Der Mann murmelte etwas und rief dann: »Luella!« Ein paar Sekunden verstrichen. Stimmengewirr. Schließlich kam Luella Hamilton an den Apparat; ihr Atem klang anfangs keuchend, später aber ruhig und vertraut. »Albert sagt, da ist Kaye Lang, stimmt das?«
»Ich bin’s, Mrs. Hamilton.«
»Na ja, ich bin jetzt zu Hause, Kaye, und ich brauche keine Nachuntersuchung mehr.«
»Ich wollte Ihnen mitteilen, dass ich nicht mehr bei der Taskforce bin, Mrs. Hamilton.«
»Sagen Sie Lu zu mir. Warum denn nicht?«
»Unsere Wege haben sich getrennt. Ich fahre jetzt nach Westen und habe mir Sorgen um Sie gemacht.«
»Das ist nicht nötig. Albert und den Kindern geht’s gut, und ich bin auch ganz in Ordnung.«
»Ich war einfach beunruhigt. Ich habe viel über Sie nachgedacht.«
»Na ja, Dr. Lipton hat mir diese Pillen gegeben, die das Kind schon innendrin tot machen, bevor es groß wird. Sie kennen doch diese Pillen?«
»Ja.«
»Ich habe es keinem gesagt, und wir haben lange überlegt, aber Albert und ich, wir machen weiter. Er sagt, teilweise glaubt er, was die Wissenschaftler sagen, aber nicht alles, und außerdem meint er, ich bin zu hässlich, als dass ich hinter seinem Rücken rummachen könnte.« Sie ließ ein kräftiges, ungläubiges Lachen hören.
»Er versteht nichts von uns Frauen und unseren Möglichkeiten, was, Kaye?« Und dann leise zu jemandem in ihrer Nähe: »Lass’ das. Ich telefoniere.«
»Nein«, sagte Kaye.
»Wir wollen das Kind haben«, erklärte Mrs. Hamilton mit starker Betonung auf dem haben. »Sagen Sie das Dr. Lipton und den Leuten in der Klinik. Was es auch sein mag, es ist unseres, und wir werden ihm die Chance geben, sich durchzukämpfen.«
»Es freut mich, das zu hören, Lu.«
»Wirklich? Sind sie etwa neugierig, Kaye?«
Kaye lachte, aber sie spürte, wie das Lachen ihr im Hals stecken blieb und sich in Weinen zu verwandeln drohte. »Stimmt.«
»Sie wollen das Baby sehen, wenn es da ist, oder?«
»Ich würde Ihnen beiden gern etwas schenken.«
»Das ist aber nett. Warum suchen Sie sich nicht selbst einen Mann und holen sich diese Grippe, dann können wir uns besuchen und vergleichen, Sie und ich, und unsere beiden hübschen Kleinen, okay? Und dann schenke ich Ihnen etwas.« In ihrem Vorschlag schwang keinerlei Ärger, Albernheit oder Widerwille mit.
»Wahrscheinlich tue ich das, Lu.«
»Wir schaffen das schon, Kaye. Vielen Dank, dass Sie sich um mich gekümmert haben, und, Sie wissen schon, dass Sie mich wie einen Menschen und nicht wie ein Versuchskaninchen behandelt haben.«
»Darf ich Sie wieder anrufen?«
»Wir ziehen bald um, aber wir finden uns schon, Kaye. Das klappt. Dafür werden Sie sorgen.«
Kaye ging durch den langen Flur von der Toilette zurück und fasste sich an die Stirn. Sie war ganz heiß. Auch im Magen war ihr übel. Holen Sie sich diese Grippe, dann können wir uns besuchen und vergleichen.
Mitch stand mit den Händen in den Hosentaschen vor dem Restaurant und beobachtete die vorüberfahrenden Autos. Als er hörte, wie die schwere Holztür sich öffnete, drehte er sich um und lächelte sie an.
»Ich habe Mrs. Hamilton angerufen«, sagte sie. »Sie wird ihr Kind bekommen.«
»Sehr tapfer.«
»Die Menschen bekommen schon seit Jahrmillionen Kinder«, erwiderte Kaye.
»Ja, ja. Nichts leichter als das.« Dann fragte er: »Wo möchtest du heiraten?«
»Wie wär’s mit Columbus?«
»Wie wär’s mit Morgantown?«
»Warum nicht«, sagte Kaye.
»Wenn ich noch länger darüber nachdenke, bin ich irgendwann völlig daneben.«
»Das bezweifle ich.« An der frischen Luft fühlte Kaye sich besser.
Sie fuhren zur Spruce Street, wo Mitch bei der Monongahela Florist Company zwölf rote Rosen für Kaye kaufte. Sie spazierten um das Gebäude des Kreisrates und ein Seniorenzentrum herum, überquerten die High Street und strebten dem Glockenturm des Bezirksgerichts mit seinem Fahnenmast zu. Unter der breiten Krone eines Ahornbaumes blieben sie stehen und studierten die beschrifteten Pflastersteine, die sich quer über den Platz vor dem Gericht zogen.
»›In liebevollem Gedenken an James Crutchfield, 11 Jahre‹«, las Kaye vor. Der Wind raschelte in den Ahornzweigen und ließ die grünen Blätter flüstern wie leise Stimmen oder alte Erinnerungen.
»›Für May Ellen Baker, fünfzig Jahre lang meine große Liebe‹«, zitierte Mitch.
»Glaubst du, wir kommen so lange miteinander zurecht?«, fragte Kaye.
Mitch lächelte und griff nach ihrer Schulter. »Ich war noch nie verheiratet«, erwiderte er, »und vielleicht bin ich naiv. Ich würde sagen: ja.« Sie gingen durch den steinernen Torbogen zum rechten Turm und traten durch die zweiflügelige Tür.
Drinnen, im Büro des Urkundsbeamten, einem langen Raum voller Bücherregale und Tische mit den riesigen, schwarzgrün eingebundenen Grundbüchern, erhielten sie die notwendigen Papiere, und man sagte ihnen, wo sie die Blutuntersuchung machen lassen konnten.
»Es ist ein Gesetz dieses Bundesstaates«, erklärte die ältliche Beamtin, die hinter einem breiten hölzernen Schreibtisch saß. Sie lächelte weise. »Sie werden auf Syphilis, Gonorrhöe, HIV und jetzt auch SHEVA untersucht. Vor ein paar Jahren gab es Bestrebungen, den obligatorischen Bluttest abzuschaffen, aber heute ist alles anders. Sie müssen drei Tage warten, dann können Sie in der Kirche oder beim Kreisrichter in jedem Bezirk des Staates heiraten. Das sind ja wunderschöne Rosen, Liebchen.« Sie griff nach der Brille, die sie an einer goldenen Kette um den Hals hängen hatte, und musterte die Blumen eingehend. »Ein Altersnachweis ist nicht erforderlich. Warum haben Sie so lange gebraucht?«
Sie gab ihnen die Formulare für Antrag und Blutuntersuchung.
»Hier bekommen wir keinen Trauschein«, sagte Kaye, als sie das Gebäude verließen. »Den Test bestehen wir nicht.« Sie ruhten sich auf einer hölzernen Bank unter den Ahornbäumen aus. Es war jetzt vier Uhr nachmittags, und der Himmel bewölkte sich zusehends. Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter.
Mitch streichelte ihre Stirn. »Du bist ganz heiß. Stimmt etwas nicht?«
»Nur der Beweis für unsere Leidenschaft.«
Kaye roch an den Blumen. Als die ersten Regentropfen fielen, hob sie die Hand und sagte: »Ich, Kaye Lang, nehme dich, Mitchell Rafelson, in dieser Zeit der Wirren und des Aufruhrs zu meinem rechtmäßigen Ehemann.«
Mitch starrte sie an.
»Heb’ die Hand, wenn du mich willst«, sagte sie.
Es wurde Mitch sofort klar: jetzt oder nie. Er griff nach ihrer Hand und machte sich die Bedeutung des Augenblicks bewusst.
»Ich nehme dich zu meiner Frau, in guten und in schlechten Tagen, für immer und ewig, um dich zu lieben und zu ehren, ob sie Raum in der Herberge haben oder nicht, Amen.«
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