Jacobs neigte mitfühlend den Kopf. »Sie hat vor einer Woche bis zehn Tagen entbunden. Keine größeren Verletzungen, aber das Gewebe ist an ein paar Stellen gerissen, und an ihrer Hose klebt noch Blut. Ich sehe nicht gern zu, wenn junge Leute wie Tiere leben, Ms. Lang.«
»Ich auch nicht.«
»Delia sagt, es sei ein Herodes Baby gewesen, und es sei tot zur Welt gekommen. Nach der Beschreibung ein Sekundärfetus. Ich habe keinen Grund, ihr nicht zu glauben, aber solche Sachen sollte man melden. Man hätte das Baby obduzieren müssen. Es werden gerade entsprechende Bundesgesetze verabschiedet, und Ohio schließt sich an … Sie sagt, sie war in West Virginia, als sie entbunden hat. So weit ich weiß, gibt es in West Virginia ziemliche Widerstände.«
»Nur in bestimmter Hinsicht«, sagte Kaye und erzählte ihm von der Vorschrift mit den Blutuntersuchungen.
Jacobs hörte zu, zog dann einen Kugelschreiber aus der Tasche und ließ ihn nervös immer wieder klicken. »Ms. Lang, als Sie heute Nachmittag zu mir kamen, wusste ich nicht genau, wer Sie sind. Ich habe Georgina gebeten, im Internet nach Nachrichtenfotos zu suchen. Ich weiß nicht, was Sie in Athens vorhaben, aber ich nehme an, Sie wissen über das alles mehr als ich.«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte Kaye. »Die Flecken im Gesicht …«
»Bei manchen Frauen stellen sich während der Schwangerschaft dunkle Verfärbungen ein. Das geht vorüber.«
»Diese hier sehen aber anders aus«, entgegnete Kaye. »Außerdem haben sie uns erzählt, dass sie noch andere Hautprobleme hatte.«
»Ich weiß.« Jacobs seufzte und setzte sich auf die Ecke seines Schreibtisches. »Ich habe hier drei schwangere Patientinnen, wahrscheinlich mit sekundären HerodesFeten. Sie lassen mich weder Fruchtwasseruntersuchungen noch Ultraschallaufnahmen machen.
Alle drei sind treue Kirchgängerinnen, und ich glaube, sie wollen die Wahrheit nicht wissen. Sie haben Angst, und sie stehen unter Druck. Ihre Bekannten schneiden sie. In der Kirche sind sie nicht mehr gern gesehen. Die Ehemänner kommen nicht mit ihnen zu mir in die Praxis.« Er zeigte auf sein Gesicht. »Bei allen verhärtet sich die Haut, und dann löst sie sich um Augen und Nase, an Wangen und Mundwinkeln. Aber sie schält sich nicht … noch nicht. Sie stoßen im Gesicht mehrere Lederhaut- und Epidermisschichten ab.« Er verzog das Gesicht und tat so, als wollte er mit Daumen und Zeigefinger einen Hautlappen abziehen. »Sie fühlt sich ein wenig wie Leder an. Fürchterlich hässlich, sehr beängstigend. Das ist der Grund, warum sie so nervös sind und warum sie gemieden werden. Es trennt sie von ihrem Umfeld, Ms. Lang. Es verletzt sie. Ich habe Berichte an die Staats- und Bundesbehörden geschrieben, aber noch keine Antwort bekommen. Es ist, als riefe man in eine große dunkle Höhle hinein.«
»Glauben Sie, dass die Masken häufig vorkommen?«, wollte Kaye wissen.
»Ich richte mich nach den Grundsätzen der Wissenschaft, Ms.
Lang. Wenn ich es mehrmals beobachte, und wenn dann dieses Mädchen aus einem anderen Bundesstaat kommt und es ebenfalls hat … ich bin sicher, dass es nicht selten ist.« Er sah sie zweifelnd an. »Wissen Sie mehr darüber?«
Sie ertappte sich dabei, dass sie sich wie ein kleines Mädchen auf die Lippe biss. »Ja und nein«, sagte sie. »Ich habe meine Stellung in der HerodesTaskforce aufgegeben.«
»Warum?«
»Das ist eine komplizierte Geschichte.«
»Weil sie dort alle Unrecht haben, stimmt’s?«
Kay wandte den Blick ab und lächelte. »Das würde ich so nicht sagen.«
»Haben Sie so etwas schon einmal gesehen? Bei anderen Frauen?«
»Ich glaube, wir werden es in Zukunft häufiger beobachten.«
»Und die Babys sind kleine Ungeheuer und sterben?«
Kaye schüttelte den Kopf. »Das wird sich wahrscheinlich ändern.«
Jacobs steckte den Kugelschreiber ein, legte die Hand auf die Schreibunterlage, hob ihre Lederecke an und ließ sie langsam wieder sinken. »Ich werde über Delia keinen Bericht verfassen. Ich weiß nicht genau, was oder an wen ich schreiben sollte. Sie wird sicher von hier verschwinden, bevor die Behörden etwas unternehmen und ihr helfen könnten. Ob wir das Kind finden, die Stelle, wo sie es bestattet haben, bezweifle ich. Sie ist erschöpft und muss ständig versorgt werden. Vor allem braucht sie einen Ort, wo sie bleiben und wieder zu Kräften kommen kann. Ich werde ihr eine Vitaminspritze geben; außerdem verschreibe ich ihr Antibiotika und ein Eisenpräparat.«
»Und die Flecken?«
»Wissen Sie, was Chromatophoren sind?«
»Zellen, die ihre Farbe ändern. Bei Tintenfischen.«
»Diese Flecken können ihre Farbe ändern«, erklärte Jacobs. »Es ist nicht nur eine hormonell bedingte Melanose.«
»Melanophoren«, sagte Kaye.
Jacobs nickte. »Das ist das richtige Wort. Haben Sie schon einmal Melanophoren bei einem Menschen gesehen?«
»Nein.«
»Ich auch nicht. Wohin wollen Sie jetzt, Ms. Lang?«
»Ganz weit nach Westen«, erwiderte sie und zückte die Brieftasche. »Ich würde jetzt gern Ihr Honorar bezahlen.«
Jacobs sah sie mit einem Blick an, wie er trauriger nicht sein konnte. »Ich betreibe hier keine blöde Gesundheitsfabrik, Ms.
Lang. Kein Honorar. Ich verschreibe die Tabletten, und Sie holen sie in einer guten Apotheke. Sie besorgen ihr etwas zu essen und suchen einen sauberen Ort, wo sie in Ruhe ausschlafen kann.«
Die Tür ging auf. Delia und Jayce kamen herein. Delia war wieder vollständig angezogen.
»Sie braucht saubere Kleidung und ein heißes Bad in einer richtigen Badewanne«, sagte Georgina resolut.
Zum ersten Mal seit ihrem Zusammentreffen lächelte Delia.
»Ich habe es mir im Spiegel angesehen«, sagte sie. »Jayce meint, die Flecken sind hübsch. Der Arzt sagt, ich bin nicht krank, und wenn ich will, kann ich später Kinder haben.«
Kaye gab Jacobs die Hand. »Vielen herzlichen Dank«, sagte sie.
Als die drei hinaus auf die Veranda zu Mitch und Morgan gingen, rief Jacobs ihnen nach: »Wir leben und wir lernen, Ms. Lang!
Und je schneller wir lernen, desto besser.«
»MINISUITEN« und »50 $« verkündete das kleine Motel in gedrängter Schrift auf einem riesigen, von der Landstraße gut sichtbaren roten Schild. Es hatte sieben Zimmer, und drei davon waren frei. Kaye mietete alle drei und gab Morgan einen Schlüssel. Der nahm ihn, runzelte die Stirn und steckte ihn ein.
»Ich bin nicht gern allein«, sagte er.
»Eine bessere Aufteilung ist mir nicht eingefallen«, sagte Kaye.
Mitch legte dem Jungen den Arm um die Schulter. »Ich bleibe bei dir«, sagte er mit einem ruhigen Blick zu Kaye. »Wir duschen und sehen fern.«
»Es wäre schön, wenn Sie in unserem Zimmer bleiben könnten«, sagte Jayce zu Kaye. »Wir würden uns dann viel sicherer fühlen.«
Die Zimmer waren nicht sonderlich sauber. Über den erkennbar durchgelegenen Betten lagen dünne, abgeschabte Steppdecken mit ausgefransten Nylonfäden und Brandlöchern von Zigaretten. Die Kaffeetischchen trugen viele ringförmige Flecken und ebenfalls Brandspuren. Jayce und Delia begutachteten alles und bezogen das Zimmer, als sei es ein Königspalast. Delia setzte sich auf den einzigen orangefarbenen Sessel neben einer Tischlampe mit mehreren kegelförmigen MetallLampenschirmen. Jayce lümmelte sich auf das Bett und schaltete den Fernseher ein. »Die haben hier PayTV«, sagte sie leise und erstaunt. »Wir können uns einen Spielfilm ansehen!«
Mitch hörte, wie Morgan im Bad ihres gemeinsamen Zimmers duschte, und öffnete die Eingangstür. Draußen stand Kaye mit erhobener Hand — sie wollte gerade klopfen.
»Ein Zimmer ist übrig«, sagte sie. »Da haben wir ja eine ganz schöne Verantwortung übernommen, was?«
Mitch umarmte sie. »Dein Instinkt«, sagte er.
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