»Und was sagt dir dein Instinkt?«, fragte sie, während sie ihre Nase an seiner Schulter rieb.
»Das sind Kinder. Sie sind schon seit Wochen unterwegs, oder seit Monaten. Man sollte ihre Eltern anrufen.«
»Vielleicht haben sie gar keine richtigen Eltern. Sie sind verzweifelt, Mitch.« Kaye trat zurück und sah ihn an.
»Immerhin sind sie so selbstständig, dass sie ein totes Baby begraben und dann weiterziehen können. Der Arzt hätte die Polizei benachrichtigen sollen.«
»Ich weiß«, sagte Kaye. »Aber ich weiß auch, warum er es nicht getan hat. Die Regeln haben sich geändert. Er glaubt, dass in Zukunft die meisten Kinder tot geboren werden. Sind wir die Einzigen, die noch Hoffnung haben?«
Die Dusche wurde abgedreht, und die Badezimmertür ging auf.
Das kleine Bad war voller Dampf.
»Die Mädchen«, sagte Kaye und ging zur Nachbartür. Sie machte zu Mitch eine Geste mit geöffneter Hand, die er sofort wiedererkannte. Die Demonstranten in Albany hatten sie benutzt, und jetzt begriff er, was sie damit andeuten wollten: den festen Glauben an das Funktionieren des Lebendigen, an die überragende Klugheit des Genoms, und die vorsichtige Unterwerfung darunter.
Keine Prophezeiung des Untergangs, kein dümmlicher Versuch, den Strom der DNA durch die Generationen mit der neu gewonnenen Macht der Menschen aufzuhalten.
Der Glaube an das Leben.
Morgan zog sich schnell an. »Jayce und Delia brauchen mich nicht«, sagte er, als er in dem kleinen Zimmer stand. Jetzt, nachdem er sich gewaschen hatte, waren die Löcher in den Ärmeln seines Pullovers noch deutlicher zu erkennen. Den schmutzigen Anorak hatte er über den Arm gehängt. »Ich will euch nicht zur Last fallen. Ich gehe jetzt. Schönen Dank, aber …«
»Jetzt setz dich mal hin und sei still«, sagte Mitch. »Hier passiert das, was die Dame will. Und die will, dass du bleibst.«
Morgan blinzelte verwundert und setzte sich auf die Bettkante.
Die Sprungfedern quietschten, und das Bettgestell ächzte. »Ich glaube, das ist der Weltuntergang«, sagte er. »Wir haben den lieben Gott echt verärgert.«
»Keine vorschnellen Schlussfolgerungen«, sagte Mitch. »Ob du es glaubst oder nicht: Es war alles schon mal da.«
Jayce schaltete den Fernseher ein und sah sich vom Bett aus das Programm an, während Delia in der abgestoßenen, schmalen Wanne ein langes Bad nahm. Dabei summte sie Melodien aus Comicserien — Scooby Doo, Animaniacs, Inspector Gadget. Kaye saß auf dem einzigen Sessel. Jayce hatte einen alten, beruhigenden Film gefunden: Alle lieben Pollyanna mit Hayley Mills. Karl Malden kniete auf einer ausgedörrten Wiese und machte sich Selbstvorwürfe wegen seiner halsstarrigen Beschränktheit. Es war eine leidenschaftliche Szene — Kaye konnte sich nicht erinnern, dass sie den Film früher so mitreißend gefunden hatte. Zusammen mit Jayce sah sie zu, aber dann merkte sie, dass das Mädchen eingeschlafen war. Sie stellte das Gerät leiser und schaltete zu einer Nachrichtensendung um.
Ein paar oberflächliche Berichte aus dem Showbusiness, eine kurze politische Nachricht über Kongresswahlen, dann ein Interview mit Bill Cosby über seine Werbung für CDC und Taskforce.
Kaye drehte den Fernseher lauter.
»Ich war mit David Satcher befreundet, dem früheren Leiter des Gesundheitswesens. Da muss es eine Art Netzwerk der Ehemaligen geben«, erklärte Cosby der Reporterin, einer blonden Frau mit breitem Lächeln und stechenden blauen Augen. »Die haben mich nämlich schon vor Jahren geholt, so einen alten Knaben, damit ich den Leuten sage, was die da eigentlich tun und was wichtig ist.
Jetzt dachten sie, ich könnte ihnen noch einmal helfen.«
»Sie gehören zu einer handverlesenen Truppe«, sagte die Journalistin. »Samt Dustin Hoffman und Michael Crichton. Sehen wir uns einmal Ihren Werbespot an.«
Kaye beugte sich vor. Cosby war jetzt vor einem schwarzen Hintergrund zu sehen, sein Gesicht strahlte väterliche Sorge aus.
»Meine Freunde an den Centers for Disease Control und viele andere Wissenschaftler auf der ganzen Welt arbeiten jeden Tag angestrengt an der Lösung dieses Problems, das uns alle betrifft. Die Herodes-Grippe. SHEVA. Jeden Tag. Sie alle werden keine Ruhe geben, bis wir es erforscht haben und heilen können. Glauben Sie mir, diese Leute machen sich wirklich Sorgen, und wenn Sie Schmerzen haben, leiden sie ebenfalls. Wir bitten Sie nicht, Geduld zu haben. Aber wenn wir überleben wollen, müssen wir klug sein.«
Die Journalistin wandte den Blick von dem großen Monitor im Studio ab. »Spielen wir jetzt einmal einen Auszug aus der Aufnahme mit Dustin Hoffman ein …«
Hoffman stand, die Hände in den Taschen seiner beigefarbenen, maßgeschneiderten Hose vergraben, in einem leeren Filmstudio.
Zur Begrüßung lächelte er freundlich, aber ernst. »Ich heiße Dustin Hoffman. Vielleicht erinnern Sie sich noch, wie ich in dem Film Outbreak einen Wissenschaftler gespielt habe, der eine tödliche Krankheit bekämpft. Ich habe mich mit den Fachleuten an den National Institutes of Health und den Centers for Disease Control and Prevention unterhalten. Sie arbeiten jeden Tag mit aller Kraft dafür, dass SHEVA unschädlich gemacht werden kann und unsere Kinder nicht mehr sterben.«
Die Reporterin unterbrach den Spot. »Tun die Wissenschaftler dort eigentlich etwas, das sie letztes Jahr noch nicht getan haben?
Was ist neu an den Arbeiten?«
Cosby zog ein gereiztes Gesicht. »Ich will nur mithelfen, dass wir uns in dem ganzen Durcheinander zurechtfinden. Ärzte und Wissenschaftler sind unsere einzige Hoffnung. Es geht nicht weg, nur weil wir auf die Straße gehen und alles anzünden. Entscheidend ist, dass wir gemeinsam nachdenken und zusammenstehen, statt Aufruhr und Panik zu verbreiten.«
Delia stand in der Badezimmertür, die stämmigen Beine nackt unter dem kleinen Motelhandtuch, die Haare in ein zweites Handtuch gewickelt. Sie starrte gebannt auf den Fernseher. »Das spielt doch alles keine Rolle mehr«, sagte sie. »Meine Babys sind tot.«
Als Mitch vom Getränkeautomat am Ende der Zimmerreihen zurückkam, tigerte Morgan in einem weiten Bogen um das Bett hin und her und rang frustriert die Hände. »Ich muss immer wieder daran denken«, sagte der Junge. Mitch hielt ihm eine Dose Cola hin. Morgan starrte sie an, nahm sie ihm aus der Hand, riss den Verschluss ab und stürzte den Inhalt hinunter. »Wissen Sie, was sie getan haben, was Jayce getan hat? Als wir Geld brauchten?«
»Das muss ich nicht wissen, Morgan«, erwiderte Mitch.
»So behandeln sie mich. Jayce ist rausgegangen und hat einen Mann gesucht, der dafür bezahlt, und dann haben sie und Delia ihm einen geblasen und Geld dafür genommen. Du liebe Güte, und ich hab’ am Abend auch mitgegessen. Und am nächsten Abend auch. Dann sind wir getrampt, und Delia hat ihr Baby bekommen. Ich durfte sie nicht anrühren, nicht mal umarmen, mir legen sie nicht mal die Arme um den Hals, aber für Geld blasen sie den Kerlen einen, und es ist ihnen egal, ob ich es sehe!« Er schlug sich mit dem Handballen gegen die Schläfe. »Sie sind so dumm, wie das Vieh auf dem Land.«
»Das war sicher ganz schön hart da draußen«, sagte Mitch. »Ihr hattet doch alle Hunger.«
»Ich bin mitgegangen, weil mein Vater nicht so toll ist, wissen Sie, aber wenigstens schlägt er mich nicht. Er arbeitet den ganzen Tag. Sie haben mich mehr gebraucht als er. Aber ich will zurück.
Ich kann nichts mehr für die beiden tun.«
»Klar«, sagte Mitch. »Aber nichts überstürzen! Wir besprechen das.«
»Ich hab’ die Scheiße so satt!«, schrie Morgan.
Das Gebrüll war auch im Nachbarzimmer zu hören. Jayce fuhr im Bett hoch und rieb sich die Augen. »Der hat wieder seinen Anfall«, murmelte sie.
Delia trocknete sich gerade die Haare und fügte hinzu:
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