Ich werde nach ihnen suchen und Sie zu gegebener Zeit unterrichten. Geldmittel sind äußerst knapp. Ich wüsste Unterstützung durch Ihre Organisation, das NCID, sehr zu schätzen. Ich danke Ihnen für Ihr Interesse. Meines Erachtens sind sie keine »abartigen Schneemenschen«, sondern völlig echt! Das CDCBüro in Tiflis habe ich nicht informiert. Man hat mir gesagt, Sie seien derjenige, dem ich vertrauen könne.
Mit den besten Grüßen
Leonid Sugashvili
Dicken sah sich das Foto noch einmal genau an. Keinerlei Anhaltspunkte. Phantome.
Der Tod reitet auf einem bleichen Pferd, schlitzt links und rechts die Kinder auf, dachte er. Und ich muss mich mit Spinnern und geldgierigen komischen Käuzen herumschlagen.
Während Kaye duschte, rief Mitch bei sich zu Hause in Seattle an.
Er tippte den Code des Anrufbeantworters ein und rief die Nachrichten ab: zwei Anrufe von seinem Vater, einer von einem Mann, der seinen Namen nicht nannte, und einer von Oliver Merton aus London. Mitch schrieb sich gerade die Telefonnummer auf, als Kaye, locker in ein Handtuch gehüllt, aus dem Bad kam.
»Es macht dir Spaß, mich zu provozieren«, sagte er. Sie trocknete sich mit einem zweiten Handtuch die kurzen Haare ab und betrachtete ihn dabei mit einer taxierenden Stetigkeit, die ihn nervös machte.
»Wer war das?«
»Ich habe meinen Anrufbeantworter abgefragt.«
»Alte Freundinnen?«
»Mein Vater, dann jemand, den ich nicht kenne — ein Mann —, und Oliver Merton.«
Kaye hob die Brauen. »Eine alte Freundin hätte ich besser gefunden.«
»Mmhmm. Er fragt, ob ich mit ihm nach Beresford im Staat New York fahren will. Er möchte mich jemand Interessantem vorstellen.«
»Einem Neandertaler?«
»Er sagt, er könne mir Spesen und Unterkunft bezahlen.«
»Klingt ja großartig«, sagte Kaye.
»Noch habe ich nicht zugesagt. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was er vorhat.«
»Er kennt sich in meiner Branche ziemlich gut aus.«
»Komm doch mit«, sagte Mitch, aber sein Blick ließ erkennen, dass er genau wüsste, wie unrealistisch seine Hoffnung war.
»Ich habe hier zu tun, und zwar noch lange«, erwiderte sie. »Aber ich werde dich vermissen, wenn du fährst.«
»Ich könnte ihn ja anrufen und fragen, was er da im Hinterkopf hat.«
»Na gut«, sagte Kaye. »Tu’ das, ich mache uns inzwischen zwei Schalen Cornflakes.«
Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Verbindung zustande kam. Das tiefe Summen eines englischen Telefons wurde schnell von einer atemlosen Stimme unterbrochen: »Verdammter Mist, es ist spät und ich habe zu tun. Wer ist da?«
»Mitch Rafelson.«
»Ach so. Entschuldigung, ich ziehe mir nur etwas an. Ich telefoniere nicht gern halbnackt.«
»Halb!«, rief eine verärgerte Frauenstimme im Hintergrund.
»Sag ihnen, ich bin bald deine Frau, und du bist ganz nackt.«
»Psst.« Lauter, den Telefonhörer halb abgedeckt, rief Merton der Frau zu: »Nur das Nötigste. Ich gehe nach nebenan.« Dann zog er die Hand vom Hörer und hielt ihn näher an den Mund. »Wir müssen unter vier Augen miteinander reden, Mitchell.«
»Ich rufe aus Baltimore an.«
»Wie weit ist das von Bethesda weg?«
»Ein ganzes Stück.«
»Halten die NIH Sie noch auf dem Laufenden?«
»Nein.«
»Und Marge Cross? Ähh … Kaye Lang?«
Mitch zuckte zusammen. Merton hatte einen geradezu gespenstischen Instinkt. »Ich bin nur ein kleiner Anthropologe, Oliver.«
»Schon gut. Es ist niemand im Zimmer, ich kann es Ihnen erzählen. In Innsbruck hat sich die Lage erheblich zugespitzt. Dort werden nicht mehr nur Boxkämpfe ausgetragen. Die können sich nicht mehr riechen. Sie haben sich zerstritten, und einer der wichtigsten Beteiligten möchte mit Ihnen reden.«
»Wer?«
»Er sagt, er habe eigentlich von Anfang an mit Ihnen sympathisiert. Angeblich hat er Sie angerufen und Ihnen gesagt, dass sie die Höhle gefunden haben.«
Mitch fiel der Anrufer wieder ein. »Er hat keinen Namen genannt.«
»Das wird er auch jetzt nicht tun. Aber er meint es ehrlich, er ist eine wichtige Person, und er will reden. Ich wäre gern dabei.«
»Klingt nach einem politischen Schachzug«, sagte Mitch.
»Meines Erachtens will er ein paar Gerüchte streuen und dann auf die Wirkungen warten. Er will, dass das Treffen nicht in Innsbruck oder Wien, sondern in New York stattfindet. In der Wohnung eines Bekannten in Beresford. Kennen Sie dort irgendjemanden?«
»Nicht dass ich wüsste«, erwiderte Mitch.
»Er hat mir noch nicht gesagt, was er sich eigentlich überlegt hat, aber ich kann ein paar Glieder zusammensetzen, und die ergeben eine ganz hübsche Kette.«
»Ich denke darüber nach und rufe Sie in ein paar Minuten noch mal an.«
Merton schien nicht sehr erbaut von dem Gedanken, auch nur kurze Zeit zu warten.
»Nur ein paar Minuten«, versicherte Mitch und legte auf. Kaye kam mit zwei vollen Schalen und einem Krug Milch auf einem Tablett aus der Küche. Sie hatte einen wadenlangen schwarzen Morgenmantel angelegt, der von einer roten Kordel zusammengehalten wurde. Er ließ ihre Beine sehen, und wenn sie sich nach vorn beugte, offenbarte er auch sehr hübsch eine Brust. »Reiscrispies oder Honigpops?«
»Honigpops, bitte.«
»Und?«
Mitch lächelte. »Könnte ich doch tausend Jahre lang mit dir frühstücken!«
Kaye sah verwirrt und erfreut zugleich aus. Sie stellte das Tablett auf dem Couchtisch ab und strich sich den Morgenmantel über den Hüften glatt. Dabei bewegte sie sich mit einer linkischen Befangenheit, die Mitch höchst liebenswert erschien. »Du weißt, was ich hören will«, sagte sie.
Mitch zog sie zärtlich neben sich auf die Couch. »Merton sagt, in Innsbruck hat es Krach gegeben, eine Spaltung. Ein wichtiges Mitglied der Arbeitsgruppe möchte mit mir reden. Merton will über die Mumien einen großen Artikel schreiben.«
»Er interessiert sich für die gleichen Dinge wie wir«, sagte Kaye nachdenklich. »Er glaubt, dass sich etwas Wichtiges abspielt. Und er verfolgt jeden Aspekt, von mir bis nach Innsbruck.«
»Daran habe ich keinen Zweifel«, sagte Mitch.
»Ist er intelligent?«
»Durchaus. Vielleicht sogar sehr intelligent. Ich weiß es nicht; ich war nur ein paar Stunden mit ihm zusammen.«
»Dann solltest du fahren, damit du erfährst, was er weiß. Übrigens liegt es näher bei Albany.«
»Stimmt. Normalerweise würde ich meine kleine Tasche packen und mich in den nächsten Zug setzen.«
Kaye goss Milch in ihre Schale. »Aber?«
»Ich kann nicht einfach lieben und dann weglaufen. Die nächsten Wochen möchte ich mit dir verbringen, und zwar ohne Unterbrechung. Nie von deiner Seite weichen.« Er streckte den Hals und kratzte sich. Kaye half ihm dabei. »Klingt nach Klette«, sagte er.
»Ich will, dass du wie eine Klette an mir hängst«, sagte sie. »Mir ist sehr danach, dich zu vereinnahmen und zu beschützen.«
»Ich kann Merton anrufen und absagen.«
»Das wirst du nicht tun.« Sie küsste ihn heftig und biss ihm in die Lippe. »Du wirst sicher Erstaunliches zu berichten haben. Ich habe letzte Nacht viel nachgedacht, und jetzt liegt jede Menge ganz gezielter Arbeit vor mir. Wenn ich damit fertig bin, habe ich dir wahrscheinlich Erstaunliches zu berichten, Mitch.«
Augustine joggte forsch parallel zur Capitol Mall auf dem Fußweg unter den Kirschbäumen, die gerade ihre letzten Blütenblätter fallen ließen. In stetigem Trab folgte ihm ein Sicherheitsbeamter im dunkelblauen Anzug, der sich hin und wieder kurz umwandte, um den Weg hinter ihnen zu überblicken.
Dicken wartete mit den Händen in den Jackentaschen, bis Augustine herangekommen war. Eine Stunde zuvor war er von Bethesda hierher gefahren und hatte dabei tapfer den Berufsverkehr durchgestanden, jenes schleichende Übel, gegen das er eine fast wütende Abneigung hegte. Augustine hielt neben ihm an und lief weiter auf der Stelle, wobei er die Arme ausstreckte.
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