Sie stand auf, zog den Morgenmantel an, ging zum Schreibtisch im Wohnzimmer und zog die mittlere Schublade heraus, in der sie ihre Kontoauszüge aufbewahrte.
Den Erlös aus dem Verkauf des Hauses und das Guthaben beim Pensionsfonds zusammengerechnet, besaß sie sechshunderttausend Dollar. Wenn sie bei Americol und der Taskforce kündigte, konnte sie davon unter bescheidenen, aber angenehmen Bedingungen jahrelang leben.
Ein paar Minuten lang addierte sie auf einem Zettel ihre Ausgaben: Notgroschen, Aufwendungen für Lebensmittel, monatliche Zahlungen. Dann richtete sie sich in ihrem Stuhl auf. »Das ist doch dummes Zeug«, sagte sie. »Was habe ich eigentlich vor?«
Und ihr starrköpfiges, verborgenes Ich fügte hinzu: »Was ist eigentlich mit dir los?«
Sie würde Mitch morgen nicht sagen, er solle verschwinden. Sie fühlte sich wohl mit ihm. In seiner Nähe wurde sie innerlich ruhiger, Ängste und Sorgen bedrückten sie weniger. Er schien zu wissen, was er tat. Vielleicht wusste er es wirklich. Vielleicht war es die Welt, die so verrückt war, die Fallen stellte, Stolperdrähte spannte und die Menschen zu üblen Entscheidungen zwang.
Sie tippte mit dem Kugelschreiber auf das Papier, riss noch ein Blatt vom Block. Ihre Finger führten den Stift fast automatisch, ohne dass sie dabei bewusst dachte, und skizzierten eine Reihe offener Leseraster auf den Chromosomen 18 und 20, die vermutlich mit den SHEVAGenen verwandt waren; man hatte sie früher als potenzielle HERVs betrachtet, aber es hatte sich herausgestellt, dass sie nicht die typischen Merkmale von Retrovirusfragmenten besaßen.
Sie musste sich diese Loci, diese verstreuten Bruchstücke genauer ansehen und herausfinden, ob sie möglicherweise zusammenpassten und exprimiert werden konnten. Das Projekt schob sie schon seit einiger Zeit vor sich her; morgen war der richtige Zeitpunkt.
Bevor sie sich für irgendetwas einsetzte, brauchte sie Munition.
Eine Rüstung.
Sie ging wieder ins Schlafzimmer. Mitch schien zu träumen.
Fasziniert legte sie sich, ohne ein Geräusch zu machen, neben ihn.
Vom Gipfel der schneebedeckten Anhöhe aus konnte der Mann die Schamanen und ihre Helfer erkennen, die ihn und sein Weib verfolgten. Dass sie beide Spuren im Schnee hinterließen, war nicht zu vermeiden, aber selbst im Gras der Niederungen und im Wald hatten die Kundigen ihre Fährte nicht verloren.
Der Mann hatte sein Weib, das mit dem Kind schwer und langsam war, hier heraufgebracht, weil er mit ihr in ein anderes Tal hinüberwechseln wollte, in dem er als Kind schon einmal gewesen war.
Er sah sich nach den Gestalten um, die nur wenige hundert Schritte hinter ihnen waren. Dann blickte er auf die vor ihm liegenden Klippen und Felsspitzen, die ihm wie zahllose umgestürzte Feuersteine vorkamen. Er hatte die Orientierung verloren, konnte sich nicht mehr an den Weg ins andere Tal erinnern. Die Frau sagte jetzt kaum noch etwas. Das Gesicht, das er früher einmal mit so viel Hingabe angesehen hatte, war hinter der Maske verborgen.
Der Mann war von großer Bitterkeit erfüllt. Hier oben sogen sich die Grassohlen der dünnen Schuhe mit Schneewasser voll.
Die Kälte kroch an den Waden hoch, stieg bis zu den Knien hinauf und ließ sie schmerzen. Obwohl er das Fell nach innen gewendet hatte, schnitt ihm der Wind in die Haut und beraubte ihn seiner Kraft, nahm ihm den Atem.
Die Frau trottete weiter. Wenn er sie im Stich ließ, konnte er davonkommen, das wusste er. Und dieses Wissen machte ihn noch wütender. Er hasste den Schnee, die Schamanen, die Berge; er hasste sogar sich selbst. Aber er brachte es nicht übers Herz, sein Weib zu hassen. Sie hatte das Blut an den Schenkeln, den Verlust ertragen und vor ihm geheim gehalten, um ihm keine Schande zu machen; sie hatte ihr Gesicht mit Lehm beschmiert, um die Male zu verdecken; und als sie es nicht mehr verbergen konnte, hatte sie, um ihn zu retten, angeboten, sich der Großen Mutter am Grashang im Tal zu opfern. Aber die Große Mutter hatte ihr Opfer abgewiesen; da war sie wehklagend und schluchzend zu ihm zurückgekommen, denn sie konnte sich nicht selbst das Leben nehmen.
Auch sein eigenes Gesicht trug die Male. Das wunderte und ärgerte ihn.
Die Schamanen und Schwestern der Großen Mutter, der Mutter der Ziegen und der Mutter des Grases, die Schneefrau, Leopard, der Laute Mörder, Schanker, der Sanfte Mörder, und Regen, der Weinende Vater, hatten sich zur kälteren Jahreszeit versammelt und ihre Entscheidung quälend langsam getroffen; Wochen hatten sie dazu gebraucht. In dieser Zeit waren die anderen — diejenigen, welche die Male trugen — in ihren Hütten geblieben.
Der Mann hatte sich zur Flucht entschlossen. Er konnte sich nicht dazu durchringen, den Schamanen und Schwestern zu vertrauen.
Als sie flohen, hatten sie die Schreie vernommen. Die Schamanen und Schwestern hatten begonnen, die Mütter und Väter mit den Malen zu töten.
Dass Flachgesichter gezeugt wurden, wussten alle. Die Frauen konnten es verbergen, ihre Männer konnten es verbergen, aber alle wussten es. Wer flachgesichtige Kinder austrug, machte die Sache nur schlimmer.
Nur die Schwestern der Götter und Göttinnen waren reinerbig und gebaren niemals Flachgesichter, denn sie bildeten die jungen Männer des Stammes aus. Sie hatten viele Männer.
Er hätte sein Weib den Schamanen als Schwester geben sollen, hätte zulassen sollen, dass auch sie die Jungen unterrichtete, aber sie hatte nur ihn gewollt.
Der Mann hasste die Berge, den Schnee, das Weglaufen. Er trottete weiter, packte das Weib grob am Arm, schob sie auf der Suche nach einem Versteck um einen Felsen herum. Er sah nicht genau hin, so erfüllt war er von jener neuen Erkenntnis, dass die Mütter und Väter des Himmels und die Geisterwelt ringsum entweder mit Blindheit geschlagen waren oder bloße Erfindungen darstellten.
Er war allein, sein Weib war allein. Kein Stamm, keine Menschen, keine Helfer. Nicht einmal die Langhaare und Nassaugen, die erschreckendsten und gefährlichsten der toten Besucher, kümmerten sich um sie. Allmählich glaubte er, dass keiner der toten Besucher real war.
Die drei Männer überraschten ihn. Er sah sie erst, als sie aus einer Spalte im Berg stiegen und ihre Spieße auf sein Weib richteten. Er kannte sie, gehörte aber nicht mehr zu ihnen. Der eine war ein Bruder gewesen, der andere ein Wolfsvater. Jetzt waren sie nichts davon, und er fragte sich sogar, wie er sie überhaupt erkannt hatte.
Bevor sie weglaufen konnten, stieß einer einen im Feuer gehärteten Spieß in den dicken Bauch der Frau. Sie fuhr herum, griff mit ihren tastenden Händen unter das Fell und schrie auf. Er hatte Steine in der Hand und warf sie, packte den Spieß des einen Mannes und stieß blind zu, traf einen von ihnen ins Auge und vertrieb sie. Sie winselten und kläfften wie junge Hunde.
Er richtete einen Schrei gen Himmel, hielt sein Weib fest, während sie um Atem rang, nahm sie auf den Arm und schleppte sie immer höher. Mit Händen und Blicken gab sie ihm zu verstehen, dass ihre Zeit trotz Blut und Schmerzen gekommen war. Das Neue kündigte sich an.
Er blickte nach oben und suchte nach einem Versteck, wo er das Neue kommen sehen konnte. Da war so viel Blut, mehr als er jemals gesehen hatte, außer bei Tieren. Während er weiter ging und die Frau trug, blickte er sich um. Die Schamanen und alle anderen verfolgten sie nicht mehr.
Mitch schrie auf und schlug unter der Decke um sich. Er strampelte mit den Beinen, seine Hände krallten sich ins Laken, Vorhänge und Mobiliar verwirrten ihn. Einen Augenblick lang wusste er nicht, wo er war.
Kaye saß neben ihm und umarmte ihn.
»Hast du geträumt?«, fragte sie und streichelte seine Schulter.
»Oh ja. Du lieber Gott. Keinen Psychokram. Keine Zeitreise. Er hatte kein Feuerholz bei sich. Aber in der Höhle haben sie damals Feuer gemacht. Auch mit den Masken stimmte etwas nicht. Aber es hat sich ziemlich echt angefühlt.«
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