Er sah sich die nächste Frau auf der Bühne an — sie war kleiner und ein wenig fülliger, mit kleinen Brüsten und sehr schmaler Taille — und musste an Kaye Lang denken.
Dicken trank sein Bier aus, ließ ein paar Vierteldollarmünzen auf den abgeschabten kleinen Tisch fallen und schob den Stuhl zurück. Eine halbnackte Rothaarige, die ihren Morgenmantel über das erhobene Bein drapiert hatte, bot ihm zum Geldeinstecken ihren Strumpf dar. Wie ein Schwachkopf stopfte er ihr einen Zwanziger unter den Hüftgürtel und sah zu ihr auf; sein Blick sollte wie eine lässige Aufforderung erscheinen, aber er fürchtete, dass er eher verklemmt und unsicher wirkte.
»Das ist doch schon mal ein Anfang, Schätzchen«, sagte sie mit dünner, aber selbstsicherer Stimme. Rasch sah sie sich um. Er war zurzeit der größte Fisch, der ohne Begleitung in dem Becken herumschwamm. »Hast zu viel gearbeitet, was?«
»Stimmt«, erwiderte er.
»Ich glaube, du brauchst eine kleine Privatvorstellung«, fügte sie hinzu.
»Das wäre nicht schlecht«, sagte er mit trockener Kehle.
»Es gibt hier ein hübsches Plätzchen. Du kennst doch die Regeln, Schätzchen? Nur ich darf dich anfassen, nicht umgekehrt.
Der Chef möchte, dass du brav auf deinem Platz bleibst. Es macht echt Spaß.«
Es klang entsetzlich. Dennoch folgte er ihr in ein kleines Zimmer auf der Rückseite des Hauses, einen von acht oder zehn Räumen in der ersten Etage, jeder so groß wie ein Schlafzimmer und unmöbliert bis auf eine kleine Bühne und einen oder zwei Klappstühle. Er setzte sich auf den Klappstuhl, und die Frau ließ ihren Morgenmantel herabgleiten. Sie trug einen winzigen String.
»Ich heiße Danielle«, sagte sie. Als er zum Sprechen ansetzte, legte sie den Finger auf ihre Lippen. »Sag’ es mir nicht«, forderte sie. »Ich liebe das Geheimnisvolle.«
Dann zauberte sie aus einer kleinen schwarzen Tasche an ihrem Arm ein weiches Plastikpäckchen hervor und öffnete es mit einer routinierten Bewegung aus dem Handgelenk. Sie zog sich eine Chirurgenmaske über das Gesicht.
»Tut mir Leid«, sagte sie mit noch dünnerer Stimme. »Du weißt ja, was los ist. Die Mädels sagen, diese neue Grippe geht durch alles durch — die Pille, Gummis, was du willst. Man muss nicht mal mehr — du weißt schon — unanständige Sachen machen, damit man Probleme kriegt. Sie sagen, alle Männer haben es. Ich hab’ schon zwei Kinder. Ich brauch’ keinen Urlaub, nur um eine kleine Missgeburt zu kriegen.«
Dicken war so erschöpft, dass er sich kaum noch rühren konnte.
Sie stellte sich auf der Bühne in Positur und fragte: »Was ist dir lieber — langsam oder schnell?«
Er stand auf und stieß aus Ungeschicklichkeit den Stuhl um, sodass es laut krachte. Sie blickte ihn verärgert an — die Augen über der Maske verengten sich, die Brauen zogen sich zusammen.
Die Maske war krankenhausgrün.
»Tut mir Leid«, sagte er und gab ihr noch einen Zwanziger.
Dann flüchtete er aus dem Zimmer, stolperte durch die verrauchte Luft, kletterte in der Nähe der Bühne über einige Beine, stieg die Stufen hinauf, hielt sich einen Augenblick lang an dem Messinggeländer fest und atmete tief durch.
Dann wischte er sich die Hand energisch an der Hose ab, als sei er derjenige, der sich anstecken konnte.
30
University of Washington, Seattle
Mitch saß auf der Bank und streckte die Arme in das blasse Sonnenlicht. Er trug ein Flanellhemd, verwaschene Jeans und abgeschabte Wanderstiefel, aber keinen Mantel.
Die nackten Bäume reckten ihre grauen Zweige über eine Fläche aus festgetretenem Schnee. Wo die Studenten regelmäßig gingen, waren die Bürgersteige frei, und Trittspuren zogen sich kreuz und quer über die verschneiten Wiesen. Langsam fielen die Flocken aus der zerklüfteten grauen Wolkenmasse, die sich über ihm türmte.
Winkend und mit dünnem Lächeln kam Wendell Packer näher.
Er war Ende dreißig wie Mitch, ein großer, schlanker Mann mit schütterem Haar und ebenmäßigen Zügen, die nur durch eine Knollennase ein wenig gestört wurden. Er hatte einen dicken Pullover und eine Daunenjacke an; in der Hand trug er einen kleinen Lederbeutel.
»Ich wollte schon immer mal einen Film über diese Wiese machen«, sagte Packer und faltete nervös die Hände.
»Was für einen?«, fragte Mitch, schon mit einem engen Gefühl in der Brust. Er hatte sich zwingen müssen anzurufen und auf das Universitätsgelände zu kommen. Allmählich lernte er, die Nervosität der früheren Bekannten und Wissenschaftlerkollegen zu ignorieren.
»Nur eine Szene. Januar, schneebedeckte Erde; Obstblüte im April. Ein hübsches Mädchen geht genau hier entlang. Allmähliche Überblendung: Erst ist sie von fallenden Schneeflocken umgeben, und später verwandeln sie sich in Blütenblätter.« Packer zeigte auf den Weg, wo die Studenten zu ihren Vorlesungen schlenderten. Dann wischte er den Matsch auf der Bank beiseite und setzte sich neben Mitch. »Du hättest auch in mein Büro kommen können. Du bist kein Ausgestoßener, Mitch. Niemand wird dich mit einem Fußtritt aus der Uni befördern.«
Mitch zuckte die Achseln. »Ich bin ein unruhiger Mensch geworden, Wendell. Ich schlafe nicht viel. In meiner Wohnung habe ich einen Stapel Lehrbücher … ich beschäftige mich den ganzen Tag mit Biologie. Ich weiß nicht, wo ich am meisten nachzuholen habe.«
»Jaja, na gut, verabschieden wir uns vom élan vital. Wir sind jetzt Ingenieure.«
»Ich würde dich gern zum Mittagessen einladen und dich ein paar Dinge fragen. Und dann wollte ich fragen, ob ich ein paar Vorlesungen in deinem Institut hören kann. Die Lehrbücher reichen mir einfach nicht.«
»Ich kann die Professoren fragen. Hattest du bestimmte Vorlesungen im Auge?«
»Embryologie. Entwicklung der Wirbeltiere. Ein bisschen Geburtshilfe, aber das ist nicht deine Abteilung.«
»Warum?«
Mitch blickte über die Wiese hinweg zu den ockerfarbenen Fassaden der Universitätsgebäude. »Ich muss noch eine Menge lernen, damit ich mir nicht den Mund verbrenne oder wieder etwas Dummes anstelle.«
»Zum Beispiel was?«
»Wenn ich dir das sage, hältst du mich mit Sicherheit für verrückt.«
»Mitch, einen der schönsten Augenblicke seit vielen Jahren habe ich erlebt, als ich mit meinen Kindern nach Ginkgo Tree gefahren bin. Es hat ihnen gefallen, sie sind überall herumgelaufen und haben Fossilien gesucht. Ich habe stundenlang auf den Boden gestarrt und mir im Nacken einen Sonnenbrand geholt. Da wurde mir klar, warum du hinten an der Mütze einen Nackenschutz hattest.«
Mitch lächelte.
»Ich bin immer noch dein Freund, Mitch.«
»Das bedeutet mir wirklich viel.«
»Es ist kalt hier«, sagte Packer. »Wohin wolltest du mich zum Essen einladen?«
»Magst du asiatische Küche?«
Sie saßen in dem kleinen chinesischen Restaurant in einem Erker am Fenster und warteten auf Reis, Nudeln und Curry. Packer nippte an einer Tasse heißem Tee, Mitch trank widersinnigerweise kalte Limonade. Das beschlagene Fenster ging auf die graue so genannte Ave hinaus, die in Wirklichkeit keine Avenue war, sondern die am Rand des Universitätsgeländes verlaufende University Street. Ein paar Jugendliche mit Lederjacken und weiten, schlotternden Hosen stapften rauchend um einen geschlossenen Zeitschriftenstand herum. Es hatte aufgehört zu schneien, und die Straßen glänzten schwarz.
»Also, warum willst du nun die Vorlesungen hören?«, fragte Packer.
Mitch entfaltete drei Zeitungsausschnitte mit Berichten über die Ukraine und Georgien. Packer las sie mit gerunzelter Stirn.
»Jemand hat versucht, die Mutter in der Höhle umzubringen.
Und Jahrtausende später bringen sie Mütter mit der Herodes-Grippe um.«
»Aha. Du meinst, die Neandertaler … Das Baby, das man außerhalb der Höhle gefunden hat.« Packer warf den Kopf zurück.
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