Dicken legte den Kopf schräg und hob die Augenbrauen.
»Es geschehen alle möglichen seltsamen Dinge«, sagte Voight sanft, »und zwar mehr als sonst, wie ich meine.«
»Haben sie über Krankheitserscheinungen geklagt?«
»Das Übliche. Erkältung, Fieber, Gliederschmerzen. Ich glaube, wir haben im Labor noch ein paar Proben, wollen Sie sie sehen?
Sind Sie schon drüben im Northside gewesen?«
»Noch nicht.«
»Warum nicht das Midtown? Da gibt es viel mehr Gewebe für Sie.«
Dicken schüttelte den Kopf. »Wie viele junge Frauen mit unerklärlichen Fiebererkrankungen oder nichtbakteriellen Infektionen?«
»Dutzende. Auch das ist nichts Ungewöhnliches. Wir heben die Tests höchstens eine Woche lang auf; wenn keine Bakterien drin sind, werfen wir sie weg.«
»Na gut. Sehen wir uns das Gewebe an.«
Dicken nahm den Kaffee mit und ging hinter Voight zum Aufzug. Das Biopsie- und Analyselabor war im Keller, nur zwei Türen neben der Leichenkammer.
»Die technischen Assistentinnen gehen um neun nach Hause.«
Voight knipste das Licht an und durchsuchte schnell einen kleinen stählernen Karteischrank.
Dicken sah sich im Labor um: drei lange weiße Tische mit Spülbecken, zwei Abzüge, Brutschränke und Regale mit säuberlich aufgereihten, braunen und weißen Glasflaschen voller Reagenzien, ordentliche Stapel mit den üblichen TestKits in flachen, orangefarbenen und grünen Pappschachteln, zwei Edelstahlkühlschränke und eine ältere weiße Gefriertruhe; ein Computer mit angeschlossenem Tintenstrahldrucker und einem angehefteten Zettel AUSSER BETRIEB; und eingezwängt in einem Nebenraum hinter einer zweiflügeligen Tür mehrere ausziehbare, stählerne Lagerregale in dem üblichen Grau und Hellbraun.
»Die hier haben sie noch nicht in den Computer eingegeben; dauert bei uns etwa drei Wochen. Sieht aus, als wäre noch eines übrig … Es ist hier im Krankenhaus Routine — wir überlassen es den Müttern. Sie können das Gewebe von einem Bestattungsunternehmen abholen lassen und eine Trauerfeier veranstalten. Ist ein besserer Abschluss. Aber wir hatten auch eine Mittellose, kein Geld, keine Angehörigen … hier.« Er zog eine Karte heraus, ging in den Nebenraum, drehte an einem Rad, fand die Regalnummer auf der Karte.
Dicken wartete an der zweiflügeligen Tür. Voight kam mit einem kleinen Gefäß zurück und hielt es im helleren Licht des Labors in die Höhe. »Falsche Nummer, aber es ist der gleiche Typ.
Dieser hier ist von vor sechs Monaten. Der, den ich gesucht habe, liegt vermutlich noch in kalter Salzlösung.« Er gab Dicken den Kolben und ging zum ersten Kühlschrank.
Dicken starrte den Fetus an: zwölf Wochen alt, ungefähr so groß wie sein Daumen, eingerollt, ein winziger, blasser Außerirdischer, der mit seinem Versuch, auf der Erde zu leben, gescheitert war.
Sofort fielen ihm Anomalien auf. Die Gliedmaßen waren nur Knötchen, und an dem aufgedunsenen Bauch befanden sich Auswüchse, wie er sie auch bei schwer missgebildeten Feten noch nie gesehen hatte.
Das winzige Gesicht wirkte ungewöhnlich eingedrückt und leer.
»Irgendetwas stimmt mit dem Knochenbau nicht«, sagte Dicken, während Voight den Kühlschrank schloss. Der Assistenzarzt hob einen anderen Fetus in einem feucht beschlagenen, mit Plastikfolie abgedeckten Kolben in die Höhe; er war mit Gummiband verschlossen und trug ein beschriftetes Klebeband.
»Eine Menge Probleme, ohne Zweifel«, sagte Voight, tauschte die Gefäße aus und besah sich das ältere Exemplar. »Gott hat in jeder Schwangerschaft kleine Kontrollpunkte eingebaut. Die beiden hier haben ihre Prüfung nicht bestanden.« Er blickte bedeutungsschwer nach oben. »Zurück in die himmlische Kinderstube.«
Dicken wusste nicht genau, ob Voight tiefe philosophische Überzeugungen oder den typischen Medizinerzynismus zum Ausdruck brachte. Er verglich den kalten Kolben und das Gefäß mit Zimmertemperatur. Beide Feten waren zwölf Wochen alt und ähnelten sich stark.
»Kann ich den hier mitnehmen?«, fragte er und hob den kalten Kolben hoch.
»Was, Sie wollen unsere Medizinstudenten bestehlen?« Voight zuckte die Achseln. »Geben Sie Ihre Unterschrift, bezeichnen Sie es als Leihgabe an die CDC, das dürfte kein Problem sein.« Er sah sich noch einmal das Gefäß an. »Etwas Bedeutsames?«
»Vielleicht«, erwiderte Dicken mit einem leichten Anflug von Erregung, in die sich Traurigkeit mischte. Voight gab ihm ein weniger zerbrechliches Gefäß, eine kleine Pappschachtel, Watte und ein Stück Eis in einem verschweißten Plastikbeutel, damit die Probe kalt blieb. Schnell überführten sie das Material mit zwei hölzernen Zungenspateln, danach verschloss Dicken die Schachtel mit Klebeband.
»Wenn Sie noch mehr von der Sorte bekommen, sagen Sie mir sofort Bescheid, okay?«, fragte Dicken.
»Aber sicher.« Im Aufzug fragte Voight: »Sie sehen ein bisschen merkwürdig aus. Gibt es etwas, das ich schon frühzeitig wissen sollte, einen kleinen Hinweis, damit ich meine Aufgabe gegenüber den Patienten besser erfüllen kann?«
Dicken wusste, dass er die ganze Zeit ein ausdrucksloses Gesicht gemacht hatte; deshalb lächelte er Voight nur an und schüttelte den Kopf. »Erfassen Sie alle Fehlgeburten«, sagte er, »vor allem diesen Typ. Jeder Zusammenhang mit der Herodes-Grippe wäre eine tolle Sache.«
Voight verzog enttäuscht die Lippen. »Bisher nichts Offizielles?«
»Bisher nicht«, erwiderte Dicken. »Ich arbeite an einer recht langfristigen Sache.«
Das Abendessen — Spaghetti und Pizza mit Sauls alten Kollegen vom MIT — verlief großartig. Saul war am Nachmittag nach Boston geflogen, und sie hatten sich im »Pagliacci« getroffen. Es war noch früh am Abend, und die Gesprächsthemen in dem alten, düsteren italienischen Restaurant reichten von der mathematischen Analyse des menschlichen Genoms bis zur chaosgestützten Voraussage für Systole und Diastole der Datenströme im Internet.
Kaye war von Grissini und grünem Paprika schon satt, bevor ihre Lasagne überhaupt kam. Saul mummelte an einem Stück Brot mit Butter.
Um neun Uhr, unberechenbar wie immer, erschien Dr. Drew Miller, eine der Berühmtheiten aus dem MIT. Er hörte aufmerksam zu und streute ein paar Bemerkungen über das aktuelle Thema des Sozialverhaltens von Bakterien ein. Saul lauschte gespannt, was der sagenumwobene Wissenschaftler, ein Experte für künstliche Intelligenz und selbstorganisierende Systeme, zu sagen hatte.
Miller wechselte mehrmals den Stuhl und tippte schließlich Sauls altem Zimmerkollegen Derry Jacobs auf die Schulter. Jacobs grinste, stand auf und suchte sich einen anderen Platz, während Miller sich neben Kaye setzte. Er nahm eine Gebäckstange von Jacobs’ Teller, starrte sie mit großen Kinderaugen an, verzog die Lippen und sagte: »Da hast du den alten Gradualisten ganz schön eins auf den Hut gegeben!«
»Ich?«, fragte Kaye lachend. »Wieso denn das?«
»Die Zöglinge von Ernst Mayr schwitzen Blut und Wasser, wenn sie überhaupt etwas merken. Dawkins ist völlig außer sich.
Ich sage ihnen schon seit Monaten, dass wir nur noch ein einziges Kettenglied brauchen, und schon haben wir eine Rückkopplungsschleife.«
Gradualismus ist die Lehre, wonach Evolution in kleinen Schritten verläuft: Über Jahrtausende oder Jahrmillionen hinweg sammeln sich Mutationen an, die für das Individuum in der Regel schädlich sind. Selektioniert werden aber nur die nützlichen Mutationen, die ihrem Träger einen Vorteil verschaffen, weil er Ressourcen besser nutzen und sich effizienter fortpflanzen kann. Ernst Mayr war ein wortgewaltiger Fürsprecher dieser Auffassung gewesen, und Richard Dawkins hatte sie in der modernen Synthese des Darwinismus ausgezeichnet vertreten; außerdem hatte er die so genannten egoistischen Gene beschrieben.
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