»Sie hassen mich«, sagte sie, und ihr Gesicht wurde blass, »weil ich schwanger bin.«
»Mich hassen sie auch.«
»Aber von dir verlangen sie nicht, dass du dich wie ein Jude im NaziDeutschland registrieren lassen musst.«
»Noch nicht«, sagte Mitch. »Fahren wir.« Er legte den Arm um sie und begleitete sie zum Toyota. Kaye musste sich anstrengen, um mit seinen langen Schritten mitzuhalten. »Vermutlich haben wir noch einen oder zwei Tage, vielleicht auch drei. Dann … wird irgendjemand irgendetwas unternehmen. Du bist ein Stachel in ihrem Fleisch. Ein doppelter Stachel.«
»Warum doppelt?«
»Prominente haben Macht«, sagte Mitch. »Man weiß, wer du bist, und du weißt, was in Wirklichkeit los ist.«
Kaye stieg auf der Beifahrerseite ein und kurbelte das Fenster herunter. Im Auto war es warm. Mitch schlug ihre Tür zu. »Weiß ich das wirklich?«, gab Kaye zurück.
»Du weißt es verdammt gut. Sue hat dir ein Angebot gemacht.
Nehmen wir es an. Ich sage nur Wendell, wohin wir gehen. Sonst niemandem.«
»Aber ich hänge an dem Haus.«
»Wir werden ein anderes finden«, erwiderte Mitch.
82
Gebäude 52, National Institutes of Health, Bethesda
Mark Augustine fieberte fast vor Freude über seinen Triumph. Er breitete die Bilder vor Dicken aus und legte die Videokassette in das Abspielgerät. Dicken nahm das erste Bild, hielt es nahe vor sein Gesicht, blinzelte. Die üblichen Farben medizinischer Aufnahmen: Fleisch in seltsamem Orange und Olivgrün, Läsionen rosa, die Gesichtszüge unscharf. Ein Mann, vermutlich über vierzig, lebendig, aber alles andere als glücklich. Das nächste Bild zeigte in Nahaufnahme den Arm des Mannes mit rosaroten Flecken; ein daneben liegendes, gelbes Plastiklineal deutete die Größenverhältnisse an. Der größte Fleck hatte einen Durchmesser von sieben Zentimetern, und in der Mitte befand sich eine hässliche, verkrustete Stelle mit dicklicher gelber Flüssigkeit. Allein am rechten Arm zählte Mitch sieben Flecken.
»Die habe ich heute Morgen den Mitarbeitern gezeigt«, sagte Augustine und griff nach der Fernbedienung, um das Video zu starten. Dicken überflog die nächsten Bilder. Auch der Rumpf des Mannes war mit rosafarbenen Hautschäden übersät. Manche davon waren riesige Blasen, auffällige Wucherungen, die zweifellos schmerzhaft waren. »Wir haben inzwischen Gewebeproben zur Untersuchung hier, aber das Team hat nur zur Bestätigung schon vor Ort einen SHEVASchnelltest durchgeführt. Die Frau des Mannes befindet sich mit einem SHEVASekundärfetus im zweiten Schwangerschaftsdrittel und trägt nach wie vor SHEVA Typ 3-s. Der Mann ist mittlerweile SHEVAfrei, das heißt, wir können SHEVA als Ursache der Hautschäden ausschließen, aber das hätten wir ohnehin nicht erwartet.«
»Wo sind diese Leute?«, fragte Dicken.
»In San Diego, Kalifornien. Illegale Einwanderer. Unser Überwachungskorps hat die Untersuchung vorgenommen und uns das Material geschickt. Es ist ungefähr drei Tage alt. Die Lokalpresse wird vorerst noch rausgehalten.«
Augustines Lächeln, das genauso schnell wie es auftauchte wieder verschwand, ähnelte kurz aufflackernden Blitzen. Er drehte sich vor seinem Schreibtisch um und spielte das Band im Schnelldurchlauf ab: Szenen aus der Klinik, die Station, die provisorischen Quarantänemaßnahmen im Zimmer — Plastikvorhänge, die mit Klebeband an Wänden und Tür befestigt waren, eine eigene Belüftung. Dann hob er den Finger von der Fernbedienung und ließ das Band wieder mit Normalgeschwindigkeit laufen.
Doktor Ed Sanger, der Aufsicht führende Vertreter der Taskforce am Mercy Hospital, über fünfzig und mit strähnigen, dunkelblonden Haaren, stellte sich vor und betete dann befangen die Diagnose herunter. Dicken hörte mit wachsendem Grauen zu. Wie ich mich so irren konnte. Augustine hat Recht. Alle seine Vermutungen haben ins Schwarze getroffen.
Augustine hielt das Band an. »Es ist ein Virus mit einzelsträngiger RNA, riesengroß und primitiv, vermutlich etwa 160000 Nucleotide. So etwas haben wir noch nie gesehen. Wir sind dabei, Übereinstimmungen zwischen seinem Genom und den bekannten codierenden Regionen von HERV zu finden. Es wirkt unglaublich schnell, es ist schlecht angepasst, und es ist tödlich.«
»Er sieht gar nicht gut aus«, sagte Dicken.
»Der Mann ist gestern Abend gestorben.« Augustine schaltete den Videorecorder aus. »Die Frau scheint symptomfrei zu sein, aber sie hat die üblichen Probleme mit der Schwangerschaft.« Augustine verschränkte die Arme und setzte sich auf die Ecke des Schreibtisches. »Horizontale Übertragung eines unbekannten Retrovirus, mit ziemlicher Sicherheit in Gang gesetzt und ausgerüstet von SHEVA. Die Frau hat den Mann angesteckt. Das ist es, Christopher. Genau das, was wir brauchen. Helfen Sie uns, wenn wir an die Öffentlichkeit gehen?«
»An die Öffentlichkeit? Womit?«
»Wir werden alle Frauen mit Sekundärschwangerschaften in Quarantäne nehmen und/oder kasernieren. Für einen so weit gehenden Eingriff in die Grundrechte brauchen wir eine hieb- und stichfeste Begründung. Der Präsident ist bereit, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, aber seine Mitarbeiter sagen, dass wir die richtigen Persönlichkeiten brauchen, um die Sache rüberzubringen.«
»Ich bin keine Persönlichkeit. Nehmen Sie einen Fernsehstar wie Bill Cosby.«
»Cosby macht nicht mit. Aber Sie … Sie sind doch sozusagen das Musterbeispiel für den tapferen Helden im Namen der Gesundheit, der sich von seinen Verwundungen erholen muss, weil Fanatiker uns aufhalten wollten.« Wieder blitzte Augustines Lächeln auf.
Dicken sah nach unten auf seine Schenkel. »Sind Sie sich Ihrer Sache ganz sicher?«
»So sicher, wie wir sein können, bevor alle Untersuchungen abgeschlossen sind. Das kann noch drei oder vier Monate dauern.
Aber angesichts der Folgen können wir es uns nicht leisten abzuwarten.«
Dicken sah Augustine an und ließ den Blick dann durch das Bürofenster zu den Bäumen und Wolkenfetzen wandern. Augustine hatte dort ein kleines buntes Glasbild aufgehängt, eine Wappenlilie in Rot und Grün.
»Alle Mütter müssten Aufkleber am Haus haben«, sagte Dicken.
»Ein Q oder ein S vielleicht. Und jede schwangere Frau müsste nachweisen, dass es sich nicht um einen SHEVAFetus handelt.
Das wird Milliarden kosten.«
»Über die Finanzierung brauchen wir uns keine Sorgen zu machen«, sagte Augustine. »Wir haben es mit der größten Gesundheitsgefahr aller Zeiten zu tun. Es ist die biologische Entsprechung zur Büchse der Pandora, Christopher. Alle RetrovirusErkrankungen, die wir besiegt haben, aber nicht los werden konnten. Hunderte, vielleicht Tausende von Krankheiten, gegen die wir heute keine natürliche Abwehr mehr haben. Dass wir dafür ausreichende Mittel bekommen, ist überhaupt keine Frage.«
»Es gibt nur ein Problem«, sagte Dicken. »Ich glaube nicht daran.«
Augustine starrte ihn an. In seinen Mundwinkeln bildeten sich tiefe Furchen, und die Brauen zogen sich zusammen.
»Ich bin hinter Viren her, fast seit ich erwachsen bin«, sagte Dicken. »Ich habe gesehen, was sie anrichten können. Ich kenne mich mit Retroviren aus, ich weiß über HERVs Bescheid. Ich weiß über SHEVA Bescheid. Die HERVs wurden wahrscheinlich deshalb nicht aus dem Genom beseitigt, weil sie Schutz gegen andere, neuere Retroviren boten. Sie sind unser eigenes kleines Verteidigungsarsenal. Und … unser Genom nutzt sie, um Neuerungen hervorzubringen.«
»Das wissen wir nicht«, sagte Augustine. Seine Stimme krächzte vor Anspannung.
»Ich möchte auf die wissenschaftlichen Ergebnisse warten, bevor wir alle Mütter in Amerika einsperren«, sagte Dicken.
Als Augustines Haut vor Verwirrung und dann vor Ärger dunkler wurde, traten die Granatsplitternarben deutlicher hervor. »Die Gefahr ist einfach zu groß«, sagte er. »Ich dachte, Sie wüssten die Chance zu schätzen, wieder auf der Bildfläche zu erscheinen.«
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