»Nein«, erwiderte Dicken. »Ich kann nicht.«
»Hängen Sie immer noch an den Hirngespinsten von einer neuen Spezies?«, fragte Augustine wütend.
»Das habe ich lange hinter mir«, sagte Dicken, erstaunt über die verdrossene Heiserkeit in seiner eigenen Stimme. Er klang wie ein Greis.
Augustine ging um den Schreibtisch herum, zog eine Hängeregistratur heraus und entnahm ihr einen Umschlag. Alles an seiner Körperhaltung, die kleinkarierte, gehemmte Großspurigkeit in seinem Gang, die wie festzementierten Gesichtszüge weckten bei Dicken ein Gefühl des Grauens. So hatte er Mark Augustine noch nie erlebt: als jemanden, der den Gnadenstoß austeilen wollte.
»Das ist für Sie gekommen, während Sie im Krankenhaus lagen.
Es steckte in Ihrem Postfach. Es war an Sie in Ihrer amtlichen Funktion adressiert, und deshalb habe ich mir erlaubt, es zu öffnen.«
Er gab Dicken die Papiere.
»Es kommt aus Georgien. Leonid Sugashvili hat Ihnen doch Bilder von Exemplaren geschickt, die er als möglichen Homo superior bezeichnet, oder?«
»Ich habe es nicht überprüft«, sagte Dicken, »und deshalb habe ich es Ihnen gegenüber nicht erwähnt.«
»Sehr klug. Man hat ihn in Tiflis wegen Betrugs verhaftet. Weil er die Angehörigen von Menschen hintergangen hat, die seit den Vorfällen vermisst werden. Er hatte den trauernden Hinterbliebenen versprochen, er könne ihnen zeigen, wo ihre Verwandten bestattet seien. Sieht aus, als hätte er es auch bei den CDC versucht.«
»Das wundert mich nicht, und es ändert auch nichts an meiner Meinung, Mark. Ich bin fix und fertig. Es fällt mir schwer genug, meinen eigenen Körper heilen zu lassen. Ich bin nicht der Richtige dafür.«
»Na gut«, sagte Augustine. »Ich lasse Sie wegen der Behinderung frühpensionieren. Wir brauchen Ihr Büro an den CDC. Nächste Wochen kommen sechzig spezialisierte Epidemiologen, und dann beginnen wir mit der Phase zwei. Mit Räumen sind wir so knapp, dass wir anfangs wahrscheinlich drei davon in Ihr Büro setzen werden.«
Schweigend sahen sie einander an.
»Danke, dass Sie mich so lange mitgeschleppt haben«, sagte Dicken ohne jeden Anflug von Ironie.
»Gern geschehen«, erwiderte Augustine ebenso neutral.
Mitch stellte die letzte Kiste auf den Stapel neben der Haustür.
Wendell Packer war am Morgen mit einem Lieferwagen gekommen. Er sah sich im Haus um, und seine Lippen bildeten eine schiefe, gebogene Linie. Sie hatten nur wenig mehr als zwei Monate hier gewohnt. Und ein Mal Weihnachten gefeiert.
Kaye hatte das Telefon aus dem Schlafzimmer in der Hand. Das Kabel hing lose herunter. »Abgestellt«, sagte sie. »Die arbeiten schnell, wenn man einen Haushalt auflöst. Ja — wie lange waren wir eigentlich hier?«
Mitch saß in dem abgeschabten Klubsessel, den er seit seiner Studentenzeit besaß. »Wir schaffen das schon«, sagte er. Seine Hände fühlten sich seltsam an — sie kamen ihm irgendwie größer vor. »Du lieber Himmel, was bin ich müde.«
Kaye saß auf der Armlehne des Sessels und massierte ihm die Schultern. Er lehnte sich an ihren Arm und rieb seine stoppelige Wange an ihrer pfirsichfarbenen Strickjacke.
»Mist«, sagte sie, »ich habe vergessen, die Batterien im Handy zu wechseln.« Sie küsste ihn auf den Kopf und eilte noch einmal ins Schlafzimmer. Mitch fiel auf, wie kraftvoll sie selbst im siebten Monat noch ging. Ihr Bauch wölbte sich deutlich, ohne riesig zu wirken. Er bedauerte, sich mit Schwangerschaften so wenig auszukennen. Dass er ausgerechnet in dieser Situation zum ersten Mal Vater wurde …
»Beide Akkus sind leer«, rief Kaye aus dem Schlafzimmer. »Es dauert ungefähr eine Stunde.«
Mitch betrachtete die verschiedenen Gegenstände im Schlafzimmer und blinzelte. Dann streckte er die Hände aus. Sie wirkten wie geschwollen, als hingen sie in PopeyeManier an den Unterarmen. Auch seine Füße fühlten sich groß an, aber er schaute nicht hin. Es war äußerst verwirrend. Obwohl es erst vier Uhr nachmittags war, hätte er sich am liebsten schlafen gelegt. Sie hatten gerade eine Dosensuppe zum Abendessen genossen. Draußen war es noch hell.
Eigentlich hatte er ein letztes Mal mit Kaye schlafen wollen, ehe sie das Haus verließen. Sie kam zurück und zog sich einen Hocker heran.
»Setz’ dich hierher«, sagte Mitch und wollte sich erheben. »Das ist bequemer.«
»Ist schon gut. Ich möchte aufrecht sitzen.«
Halb im Aufstehen hielt Mitch inne. Er fühlte sich benommen.
»Stimmt etwas nicht?«
Er sah das erste Aufleuchten. Mit geschlossenen Augen ließ er sich wieder in den Sessel fallen. »Es kommt«, sagte er.
»Was?«
Er zeigte auf seine Schläfe und sagte leise: »Peng.« Schon als Junge hatte er erlebt, wie sich sein ganzer Körper während der Kopfschmerzen verkrampfte. Er wusste noch genau, wie unangenehm er das empfunden hatte, und jetzt rastete er vor Widerwillen und bösen Vorahnungen beinahe aus.
»Ich habe Tabletten in der Handtasche«, sagte Kaye. Er hörte sie durchs Zimmer gehen. Mit geschlossenen Augen sah er gespenstische Lichter, seine Füße kamen ihm so riesig wie die eines Elefanten vor. Die Schmerzen rückten näher, so als dröhne Kanonendonner durch ein weites Tal.
Kaye drückte ihm zwei Pillen und ein Glas Wasser in die Hand.
Er schluckte das Medikament und trank, aber ohne jede Zuversicht, dass sie ihm helfen würden. Wenn er eindeutig gewarnt gewesen wäre, wenn er sie früher am Tag genommen hätte, dann vielleicht …
»Wir packen dich am besten ins Bett«, sagte Kaye.
»Wie bitte?«
»Bett.«
»Ich will hier weg«, sagte er.
»Genau. Schlaf ein bisschen.«
Es war der einzige Ausweg, auf den er hoffen konnte. Aber selbst dann würde er vielleicht grausige, qualvolle Träume haben. Auch daran konnte er sich erinnern; wie er geträumt hatte, die Berge würden ihn zermalmen.
Er legte sich in der Kühle des leeren Schlafzimmers auf die Laken, die sie für ihre letzte Nacht hier gelassen hatten, und unter die Steppdecke. Er zog sich die Decke über den Kopf, sodass nur noch eine kleine Öffnung zum Atmen blieb.
Dass Kaye ihm sagte, wie sehr sie ihn liebte, hörte er kaum noch.
Kaye zog die Decke zurück. Mitchs Stirn war feucht und eiskalt.
Sie war besorgt und hatte Schuldgefühle, weil sie seine Schmerzen nicht mit ihm teilen konnte; aber dann siegte ihre Vernunft und sie sagte sich, dass Mitch ihre Schmerzen seinerseits ja auch nicht teilen konnte, wenn sie das Baby zur Welt brachte.
Sie setzte sich neben ihn aufs Bett. Sein Atem kam in flachen Stößen. Instinktiv griff sie sich unter der Strickjacke an den Bauch, hob den Pullover hoch und strich sich über die Haut, die so straff gespannt war, dass sie fast durchsichtig erschien. Nachdem das Baby am Nachmittag eine Zeit lang kräftig gestrampelt hatte, war es jetzt seit einigen Stunden ruhig.
Kaye hatte noch nie erlebt, dass von innen gegen ihre Nieren getreten wurde, und fand die Erfahrung alles andere als angenehm.
Ebenso wenig Spaß machte es ihr, dass sie einmal in der Stunde zur Toilette musste und in regelmäßigen Abständen Sodbrennen bekam. Nachts, wenn sie im Bett lag, spürte sie sogar die rhythmischen Bewegungen ihres Darmes.
Das alles machte ihr Angst; es hatte aber auch zur Folge, dass sie sich höchst lebendig und hellwach fühlte.
Aber ihre Gedanken schweiften von Mitch und seinen Schmerzen ab. Sie legte sich neben ihn; plötzlich zog er an der Decke und drehte sich von ihr weg.
»Mitch?«
Er antwortete nicht. Sie lag für kurze Zeit auf dem Rücken, aber das war unbequem, also drehte sie sich auf ihrer Seite so, dass sie ihm den Rücken zuwandte, und rückte dann sanft immer näher zu ihm, um seine Wärme zu spüren. Weder rührte er sich, noch wehrte er sie ab. Sie starrte die schwach erleuchtete, nackte Wand an. Ihr kam die Idee, aufzustehen und ein paar Minuten an dem Buch zu arbeiten, aber der Laptop und die Notizbücher waren schon verpackt. Der Impuls ging vorüber.
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