»Nein!«, schrie Mitch und schwenkte einen Arm. »Kommen Sie wieder, wenn ich Sie sehen kann, wenn ich reden kann! Und lassen Sie um Himmels willen meine Frau in Ruhe!«
»Kommen Sie bitte in den Windfang, Ma’am«, sagte der Polizist. Kaye merkte, dass die Lage gefährlich wurde. Mitch war nicht in dem Zustand, irgendeinen vernünftigen Gedanken zu fassen.
Sie wusste nicht, was er tun würde, um sie zu beschützen. Die Männer da draußen hatten Angst. Es waren entsetzliche Zeiten, es konnten entsetzliche Dinge geschehen, und man würde niemanden dafür bestrafen; vielleicht würde man sie erschießen und das Haus bis auf die Grundmauern niederbrennen, als hätten sie die Pest.
»Meine Frau ist schwanger«, sagte Mitch. »Bitte lassen Sie sie in Ruhe.« Er wollte zur Tür gehen. Kaye blieb an seiner Seite und führte ihn.
Der Polizist hielt die Pistole immer noch auf den Windfang gerichtet, aber inzwischen hatte er die Arme ausgestreckt und umklammerte die Schusswaffe mit beiden Händen. Jurgenson sagte ihm, er solle die Waffe wegstecken, aber er schüttelte nur den Kopf.
»Ich will nicht, dass die eine Dummheit machen«, sagte er leise.
»Wir kommen raus«, erklärte Kaye. »Stellen Sie sich nicht so an.
Wir sind nicht krank, und wir sind nicht ansteckend.«
Jurgenson sagte, sie sollten durch die Tür gehen und aus dem Windfang nach draußen treten. »Wir haben einen Krankenwagen hier. Wir bringen Sie beide an einen Ort, wo man sich um Ihren Mann kümmern wird.«
Kaye half Mitch, aus der Tür zu treten und die Stufen des Windfangs hinunterzugehen. Er schwitzte heftig, und seine Hände waren feuchtkalt. »Ich sehe immer noch nicht gut«, flüsterte er Kaye ins Ohr. »Sag’ mir, was sie machen.«
»Sie wollen uns wegbringen.« Sie standen jetzt im Vorgarten.
Jurgenson gab Clark einen Wink, worauf er die Hecktür des Krankenwagens aufmachte. Kaye sah, dass eine junge Frau hinter dem Steuer des Ambulanzwagens saß und mit großen Augen aus dem hochgekurbelten Fenster blickte. »Mach’ keine Dummheiten«, sagte Kaye zu Mitch. »Geh einfach weiter. Haben die Tabletten geholfen?«
Mitch schüttelte den Kopf. »Es ist schrecklich. Ich fühle mich so blöd … dich mit dieser Situation allein zu lassen. Schutzlos jedem Angriff ausgesetzt.« Seine Worte klangen dumpf, die Augen hatte er fast geschlossen. Er konnte das Licht der Autoscheinwerfer nicht ertragen. Als die Polizisten ihre Taschenlampen auf Kaye und Mitch richteten, hielt er sich schützend die Hand vor die Augen und wollte sich abwenden.
»Keine Bewegung«, befahl der Polizist mit der Pistole. »Nehmen Sie die Hände hoch!«
Kaye hörte neue Motorengeräusche. Der zweite Polizist drehte sich um. »Da kommen Autos«, sagte er. »Lastwagen. Eine ganze Menge.«
Kaye zählte vier Scheinwerferpaare, die sich auf der Straße auf das Haus zu bewegten. Drei Kleinlastwagen und ein Pkw bogen in den Vorplatz ein, wirbelten den Kies auf und hielten mit quietschenden Bremsen. Auf den Ladeflächen der Lastwagen saßen Männer — Männer mit schwarzen Haaren und karierten Hemden, Lederjacken und Anoraks, Männer mit Pferdeschwänzen. Dann sah sie Jack, Sues Mann.
Jack öffnete die Fahrertür seines Lastwagens und stieg mit gerunzelter Stirn aus. Auf ein Handzeichen von ihm blieben die Männer hinten auf den Fahrzeugen.
»Guten Abend«, sagte er, wobei sein Stirnrunzeln plötzlich verschwand und sein Gesicht einen neutralen Ausdruck annahm.
»Hallo Kaye, hallo Mitch. Euer Telefon funktioniert nicht.«
Die Polizisten sahen Jurgenson und Clark in Erwartung neuer Anweisungen an. Die Pistole war immer noch auf die Auffahrt gerichtet. Wendell Packer und Maria Konig stiegen aus dem Personenwagen und kamen zu Mitch und Kaye herüber. »Ist schon gut«, sagte Packer zu den vier Männern, die jetzt in Abwehrhaltung ein offenes Viereck bildeten. Er hob die Hände und zeigte ihnen, dass sie leer waren. »Wir haben ein paar Freunde mitgebracht, die ihnen beim Umzug helfen sollen, okay?«
»Mitch hat Migräne«, rief Kaye. Mitch wollte sich von ihr lösen und allein stehen, aber er war zu wackelig auf den Beinen.
»Armer Kerl«, sagte Maria und ging in großem Bogen um die Polizisten herum. »Ist schon gut«, sagte sie zu ihnen. »Wir sind von der University of Washington.«
»Und wir sind von den Fünf Stämmen«, fügte Jack hinzu. »Das hier sind unsere Freunde. Wir helfen ihnen beim Umziehen.« Die Männer auf den Lastwagen hielten die Hände erhoben, lächelten aber wie Wölfe, wie Gauner.
Clark tippte Jurgenson auf die Schulter. »Machen wir lieber keine Schlagzeilen«, sagte er. Jurgenson stimmte mit einem Nicken zu. Während Clark in den Krankenwagen stieg, gesellte sich Jurgenson ohne jedes weitere Wort zu den Polizisten im Caprice.
Gleich darauf setzten die Fahrzeuge zurück, wendeten und rumpelten im Dämmerlicht davon.
Die Hände in die Jeanstaschen vergraben, den Mund zu einem breiten, unternehmungslustigen Lächeln verzogen, kam Jack näher. »Das war ja lustig«, bemerkte er.
Wendell und Kaye halfen Mitch, sich auf die Erde zu setzen. »Es geht mir bald wieder gut«, sagte Mitch, den Kopf auf die Hände gestützt. »Aber eben war ich wie gelähmt. Du lieber Gott, ich konnte überhaupt nichts unternehmen.«
»Ist schon gut«, beruhigte ihn Maria.
Kaye kniete sich neben ihn, legte die Wange an seine Stirn und sagte: »Wir bringen dich rein.« Zusammen mit Maria half sie ihm, auf die Beine zu kommen, und dann trugen sie ihn mehr oder weniger bis ins Haus.
»Wir haben es von Oliver in New York erfahren«, sagte Wendell. »Christopher Dicken hat ihn angerufen und ihm mitgeteilt, dass sehr bald etwas sehr Unschönes passieren werde. Er hat gesagt, ihr geht nicht ans Telefon.«
»Das war am späten Nachmittag«, ergänzte Maria.
»Daraufhin hat Maria Sue angerufen«, erklärte Wendell. »Und Sue hat Jack angerufen. Jack war gerade in Seattle. Und niemand hatte etwas von euch gehört.«
»Ich war bei einer Besprechung im LummiKasino«, sagte Jack und winkte den Männern auf den Lastwagen zu. »Wir haben über neue Spiele und Spielautomaten beraten. Sie haben angeboten, mitzukommen. Gute Sache, nehme ich an. Ich denke, wir sollten jetzt nach Kumash fahren.«
»Ich bin bereit«, erklärte Mitch. Er ging aus eigener Kraft die Treppe hinauf, drehte sich um, streckte die Hände aus und sah die anderen an. »Ich schaffe das. Es geht mir gut.«
»Dort können sie euch nicht anrühren«, sagte Jack. Mit glänzenden Augen blickte er die Auffahrt entlang. »Sie werden alle zu Indianern machen. Verdammte Idioten.«
84
Kumash County, im Osten des Staates Washington
Mai
Mitch stand am Rand einer niedrigen Anhöhe aus Kalkstein und blickte zum Spielkasino und Hotel »Wild Eagle« hinunter. Er schob den Hut zurück und blinzelte in die blendende Sonne. Die Luft war still und selbst um neun Uhr morgens schon heiß. Das Casino, ein greller blauweiß-goldener Fleck in den hellen Erdfarben des südöstlichen Washington, hatte in normalen Zeiten vierhundert Angestellte, darunter dreihundert aus den Fünf Stämmen.
Das Reservat stand unter Quarantäne, weil es nicht mit Mark Augustine kooperierte. Auf der Hauptstraße, die von der Staatsstraße abzweigte, standen drei Kleinlastwagen der Kreispolizei von Kumash County. Sie sollten die Bundespolizisten bei der Durchsetzung einer Anordnung unterstützen, die von der Taskforce erlassen worden war und das ganze Reservat der Fünf Stämme zur Gesundheitsgefahr erklärte.
Das Kasino machte seit über drei Wochen keinen Umsatz mehr.
Der Parkplatz war fast leer, und die Leuchtreklame hatte man abgeschaltet.
Mitch scharrte mit dem Stiefel in der harten, verbackenen Erde.
Er war aus dem klimatisierten, fest installierten Wohnwagen hier auf den Hügel gekommen, weil er ein wenig nachdenken wollte.
Читать дальше