Als Oliver Merton eintrat, stand er auf und lächelte. »Schön Sie wiederzusehen, Mr. Merton.«
»Danke, dass Sie Zeit für mich haben, Dr. Augustine. Ich habe draußen eine ganz nette Durchsuchung hinter mich gebracht. Sie haben mir sogar meinen Notizblock abgenommen.«
Augustine machte ein entschuldigendes Gesicht. »Ich habe sehr wenig Zeit, aber Sie haben sicher etwas Interessantes zu berichten.«
»Stimmt.« Merton sah auf, als Mrs. Leighton mit einem Tablett und zwei Tassen hereinkam.
»Tee, Mr. Merton?«, fragte sie.
Merton lächelte verlegen. »Eigentlich lieber Kaffee. Ich war die letzten Wochen in Seattle und habe mir den Tee ziemlich abgewöhnt.«
Mrs. Leighton streckte Augustine die Zunge heraus und ging noch eine Tasse Kaffee holen.
»Die ist ja ganz schön frech«, stellte Merton fest.
»Wir haben schon in harten Zeiten zusammengearbeitet«, erwiderte Augustine, »und auch in ziemlich düsteren Zeiten.«
»Natürlich«, sagte Merton. »Erst einmal herzlichen Glückwunsch, dass Sie es geschafft haben, die SHEVATagung an der University of Washington zu verhindern.«
Augustine sah ihn verblüfft an.
»Irgendetwas mit NIHForschungsgeldern, die gestrichen würden, wenn die Konferenz wie geplant stattfindet. Mehr konnte ich meinen Quellen an der Universität nicht aus der Nase ziehen.«
»Das ist mir neu«, sagte Augustine.
»Wir werden sie stattdessen in einem kleinen Motel außerhalb des Universitätsgeländes abhalten. Und die Verpflegung beziehen wir vielleicht von einem berühmten französischen Restaurant mit einem mitfühlenden Küchenchef. Das wird uns den sauren Apfel versüßen. Wenn wir schon ganz und gar zu ausgestoßenen Meuterern werden, wollen wir wenigstens unseren Spaß haben.«
»Das klingt alles andere als objektiv, aber ich wünsche Ihnen viel Glück«, sagte Augustine.
Mertons Miene verwandelte sich in ein herausforderndes Grinsen. »Gerade heute Morgen habe ich von Friedrich Brock erfahren, dass es bei dem Personal, das an der Universität Innsbruck für die Neandertalermumien zuständig ist, eine völlige Umbesetzung gegeben hat. Eine interne wissenschaftliche Begutachtung ist zu dem Schluss gelangt, dass die entscheidenden Befunde ignoriert und große wissenschaftliche Fehler begangen wurden. Man hat Herrn Professor Brock wieder nach Innsbruck gerufen. Er ist jetzt gerade unterwegs.«
»Ich weiß nicht, warum mich das interessieren sollte«, sagte Augustine. »Wir haben noch zwei Minuten.«
Mrs. Leighton kam mit einer Tasse Kaffee zurück. Merton nahm einen großen Schluck. »Danke. Sie werden die drei Mumien als genetisch verwandte Familienmitglieder bezeichnen. Das heißt, sie werden einräumen, dass wir es hier mit dem ersten handfesten Beleg für Artbildung beim Menschen zu tun haben.
Und in allen Proben wurde SHEVA gefunden.«
»Sehr gut«, sagte Augustine.
Merton presste die Handflächen gegeneinander. Florence beobachtete ihn mit beiläufiger Neugier.
»Damit sind wir am Anfang des langen, steinigen Weges zur Wahrheit, Dr. Augustine. Ich war gespannt, wie Sie die Nachricht aufnehmen würden.«
Augustine sog durch die Nase ein wenig Luft ein. »Was auch vor Zehntausenden von Jahren geschehen sein mag, es beeinflusst unsere Beurteilung der derzeitigen Vorgänge nicht. Kein einziger HerodesFetus ist bisher ausgetragen worden. Erst gestern haben uns Wissenschaftler des National Institute of Allergy and Infectious Diseases gesagt, dass nicht nur die sekundären Feten zu einem katastrophal hohen Anteil im ersten Schwangerschaftsdrittel abgestoßen werden, sondern dass sie auch besonders anfällig für praktisch alle bekannten Herpesviren sind, einschließlich des EpsteinBarrVirus. Mononucleose. Fünfundneunzig Prozent der Weltbevölkerung sind Träger des EpsteinBarrVirus, Mr. Merton.«
»Sie lassen sich durch nichts in Ihrer Einschätzung erschüttern, Doktor?«, fragte Merton.
»Mein eines gesundes Ohr klingelt noch von der Bombe, die unseren Präsidenten getötet hat. Ich habe schon alle möglichen Angriffe überlebt. Mich kann nichts erschüttern außer Fakten, Fakten von heute, Fakten, die etwas zu bedeuten haben.« Augustine ging um den Schreibtisch herum und setzte sich auf eine Ecke. »Ich wünsche den Leuten in Innsbruck alles Gute, ganz gleich, wer die Untersuchungen leitet«, sagte er. »In der Biologie gibt es so viele Rätsel, dass wir bis zum Ende aller Zeiten genug zu tun haben. Wenn Sie das nächste Mal in Washington sind, kommen Sie vorbei, Mr. Merton. Florence wird es dann sicher noch wissen — kein Tee, sondern Kaffee.«
Das Tablett auf den Beinen balancierend, bewegte Dicken seinen Rollstuhl durch die Kantine des Natcher Building. Er sah Merton und kam an das Ende des Tisches gerollt. Mit einer Hand stellte er sein Tablett ab.
»Angenehme Zugfahrt gehabt?«, fragte er.
»Hervorragend«, erwiderte Merton. »Ich denke, Sie sollten wissen, dass Kaye Lang nach wie vor ein Foto von Ihnen auf ihrem Schreibtisch stehen hat.«
»Für eine Nachricht ist das aber reichlich seltsam, Oliver. Warum um Himmels willen sollte mich das kümmern?«
»Weil ich glaube, dass Sie für Kaye mehr als nur wissenschaftliche Kollegialität empfunden haben«, sagte Merton. »Sie hatte Ihnen nach dem Bombenattentat mehrere Briefe geschrieben, aber Sie haben nie geantwortet.«
»Wenn Sie ekelhaft sein wollen, setze ich mich zum Essen woanders hin«, bemerkte Dicken und griff wieder nach seinem Tablett.
Merton hob die Hände. »Entschuldigung. Das war mal wieder mein Kritiker- und Aufklärerinstinkt.«
Dicken stellte das Tablett wieder ab und brachte seinen Rollstuhl in die richtige Stellung. »Die eine Hälfte des Tages warte ich darauf, dass ich wieder gesund werde, und ich mache mir Sorgen, dass ich die Beine und die Hand vielleicht nie wieder richtig benutzen kann … Ich versuche, Vertrauen in meinen Körper zu gewinnen. Und die andere Hälfte quäle ich mich in der Reha, bis es weh tut. Ich habe keine Zeit, über entgangene Gelegenheiten zu grübeln. Sie vielleicht?«
»Meine Freundin in Leeds hat letzte Woche Schluss gemacht.
Ich bin nie zu Hause. Außerdem bin ich positiv, und das hat sie verängstigt.«
»Tut mir Leid«, sagte Dicken.
»Ich war gerade in Augustines Allerheiligstem. Er wirkt ganz schön großspurig.«
»Die Meinungsumfragen geben ihm Recht. Aus der Gesundheitskrise wird internationale Politik. Fanatiker drängen uns zu Unterdrückungsgesetzen. Zum Kriegsrecht fehlt nur noch der Name, und die medizinischen Bekanntmachungen werden von der Taskforce herausgegeben — das heißt, die bestimmen fast alles.
Nach Shawbecks Rücktritt ist Augustine die Nummer zwei im Land.«
»Beängstigend«, sagte Merton.
»Sagen Sie mir, was heutzutage nicht beängstigend ist«, erwiderte Dicken.
Merton gab ihm Recht. »Ich bin überzeugt, dass Augustine die Fäden zieht, damit unsere SHEVATagung im Nordwesten verboten wird.«
»Er ist ein Bürokrat, wie er im Buche steht — das heißt, er verteidigt seine Stellung mit allen Mitteln.«
»Und wo bleibt die Wahrheit?«, fragte Merton mit gerunzelten Brauen. »Ich bin es nicht gewohnt zuzusehen, wie Behörden die wissenschaftliche Diskussion bestimmen.«
»Sie sind doch sonst nicht so naiv, Oliver. Die Briten tun das schon seit Jahren.«
»Ja, ja, ich habe mit so vielen Ministern zu tun gehabt, dass ich die Methode allmählich kenne. Aber wo stehen Sie? Sie haben dazu beigetragen, Kayes Bündnis zusammenzubringen — warum schmeißt Augustine Sie nicht einfach raus und geht zur Tagesordnung über?«
»Weil ich das Licht gesehen habe«, erwiderte Dicken. »Oder besser gesagt, die Dunkelheit. Die toten Babys. Ich habe die Hoffnung verloren. Augustine hat mich schon vorher ganz schön auf Trab gehalten — ich war eine Art Alibi, durfte an politischen Sitzungen teilnehmen. Aber er hat mir nie so viel Leine gelassen, dass ich daraus eine Schlinge hätte knüpfen können. Und jetzt … ich kann nicht mehr reisen, nicht mehr die notwendigen Recherchen anstellen. Ich bin nutzlos.«
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