Sie ließ das Geländer los und spie Zahnpaste in einen Wasserbeutel. Dann schwebte sie in den Korridor zurück. Komme, was wolle, sie hatten ihr Ziel erreicht. Sie hatten zumindest die Chance für einen Versuch gewonnen.
Die Demontage der Ares bewirkte bei vielen ein seltsames Gefühl. Es war, wie John bemerkte, als ob man eine Stadt zerlegte und die Häuser nach allen Richtungen fortschleuderte. Unter dem Riesenauge des Mars wurden alle ihre Meinungsverschiedenheiten angespannter. Gewiss war es jetzt kritisch, und es war nur noch wenig Zeit. Die Leute diskutierten, offen oder unter der Oberfläche. Es gab jetzt so viele kleine Gruppen, die unter sich berieten … Was war aus jenem kurzen Moment des Glücks geworden? Maya gab hauptsächlich Arkady die Schuld. Er hatte die Büchse der Pandora geöffnet. Hätte sich ohne ihn und seine Reden die Farmgruppe so eng um Hiroko geschart? Hätte das medizinische Team sich so isoliert beraten? Sie meinte, nein.
Sie und Frank arbeiteten angestrengt, um Differenzen auszubügeln und einen Konsens zu schmieden, ihnen das Gefühl zu geben, dass sie immer noch ein geschlossenes Team bildeten. Dies schloss lange Konferenzen mit Phyllis und Arkady, Ann und Sax, Houston und Baikonur ein. Dabei entwickelte sich eine Beziehung zwischen den beiden Anführern, die noch komplexer war als ihre früheren Begegnungen im Park, obwohl die auch dazu gehörten. Maya erkannte jetzt bei den gelegentlichen Anflügen von Sarkasmus bei Frank, dass ihn dieses Erlebnis mehr bewegt hatte, als sie damals dachte. Aber jetzt konnte man nichts mehr daran ändern.
Schließlich wurde die Phobosmission tatsächlich Arkady und seinen Freunden übertragen, hauptsächlich deshalb, weil sie sonst niemand wollte. Es wurde allen ein Platz bei einer geographischen Forschungstour versprochen, wenn sie das wünschten. Und Phyllis und der Rest der ›Houston-Gruppe‹ erhielten die Zusicherung, dass die Einrichtung des Basislagers nach den Plänen aus Houston erfolgen sollte. Sie beabsichtigten auf der Basis zu arbeiten, um zu sehen, dass das auch wirklich geschah. »Fein, fein«, knurrte Frank am Ende einer solchen Konferenz. »Wir werden doch alle auf dem Mars leben; müssen wir denn so darüber streiten, was wir dort tun werden?«
»So ist das Leben«, sagte Arkady fröhlich. »Auf dem Mars oder nicht, das Leben geht weiter.«
Frank spannte die Kinnmuskeln an. »Ich bin hierher gekommen, um so etwas zu entkommen!«
Arkady schüttelte den Kopf. »Das ist dir bestimmt nicht gelungen. Dies ist dein Leben, Frank. Was würdest du ohne es tun?«
Eines Abends kurz vor der Landung kamen sie zusammen und hielten ein Bankett für die gesamte Besetzung ab. Die meisten Lebensmittel waren auf der Farm gewachsen: Pasta, Salat und Brot, dazu Rotwein aus den Beständen, der für einen besonderen Anlass aufgespart war.
Bei einem Dessert aus Erdbeeren erhob sich Arkady, um einen Toast auszubringen. »Auf die neue Welt, die wir jetzt erschaffen!«
Ein Chor von Murren und Applaus. Inzwischen wussten alle, was er meinte. Phyllis ließ eine Erdbeere fallen und sagte: »Schau, Arkady, diese Niederlassung ist eine wissenschaftliche Station. Deine Ideen spielen dafür keine Rolle. Vielleicht in fünfzig oder hundert Jahren. Aber vorerst wird es ähnlich sein wie bei den Stationen in Antarctica.«
»Das stimmt«, sagte Arkady. »Aber antarktische Stationen sind in Wirklichkeit höchst politisch. Die meisten von ihnen wurden eingerichtet, damit die betreffenden Länder bei der Revision des Antarktisabkommens mitsprechen könnten. Und jetzt werden die Stationen von Gesetzen beherrscht, die dieses Abkommen aufgestellt hat, welches durch einen sehr politischen Prozess zustande gekommen ist. Du darfst also nicht einfach den Kopf in den Sand stecken und rufen: ›Ich bin Wissenschaftler, ich bin Wissenschaftler!‹« Er legte eine Hand an die Stirn in der allgemeinen Geste, die eine Primadonna verspottet. »Nein. Wenn du das sagst, sagst du nur: ›Ich will nicht über komplexe Systeme nachdenken!‹ Was echten Wissenschaftlern gewiss nicht ansteht.«
»Die Antarktis wird von einem Abkommen regiert, weil dort niemand lebt außer in Forschungsstationen«, sagte Maya ärgerlich. Sollte ihr Schlußbankett, ihr letzter Moment der Freiheit, derartig kaputtgemacht werden?!
»Stimmt«, sagte Arkady. »Denkt aber an das Ergebnis! In Antarctica kann niemand Land besitzen. Kein Land und keine Organisation kann die natürlichen Schätze des Landes ausbeuten oder nehmen und anderen verkaufen, so dass manche davon profitieren, während andere für ihre Nutzung bezahlen. Seht ihr nicht, wie sich dies davon unterscheidet, wie der Rest der Welt betrieben wird? Und dies hier ist das letzte Areal auf der Erde, das organisiert werden und ein Gesetzeswerk bekommen muss. Es stellt das dar, was alle Regierungen in gemeinsamer Arbeit instinktiv für fair halten, sich offenbarend auf einem Land, das frei ist von Herrschaftsansprüchen und sogar von jeglicher Geschichte. Es ist, um es schlicht zu sagen, der beste Versuch der Erde, gerechte Eigentumsverhältnisse zu schaffen. Versteht ihr? Dies ist eine Methode, nach der die ganze Welt betrieben werden sollte, wenn wir sie nur von der Zwangsjacke der Geschichte freimachen könnten!«
Sax Russell blinzelte und sagte: »Aber, Arkady, da der Mars nach einem Abkommen regiert werden soll, das auf dem alten antarktischen beruht, was hast du dagegen einzuwenden? Der Weltraumvertrag besagt, dass kein Land Boden auf dem Mars beanspruchen kann, dass keine militärische Aktivitäten gestattet sind und alle Basen für Inspektion durch jedes Land offen stehen. Auch können keine Bodenschätze des Mars Eigentum einer einzelnen Nation sein. Die UN soll eine internationale Behörde einrichten, der alle montane oder sonstige Ausbeutung untersteht. Wenn alles nach diesen Richtlinien geschieht, was ich bestimmt erwarte, dann haben alle Nationen der Welt daran Anteil.« Er hob die Hand. »Ist nicht das, wofür du agitierst, schon geschehen?«
»Es ist ein Anfang«, erwiderte Arkady. »Aber es gibt Aspekte dieses Vertrages, die du nicht erwähnt hast. Zum Beispiel werden auf dem Mars errichtete Basen dem Land gehören, das sie gebaut hat. Wir werden amerikanische und russische Basen errichten, wie im Gesetz vorgesehen. Und damit sind wir wieder in den Alptraum irdischen Rechts und irdischer Geschichte zurückgeworfen. Amerikanische und russische Firmen werden das Recht haben, den Mars auszubeuten, solange die Profite irgendwie allen Nationen zugute kommen, die den Vertrag unterzeichnen. Das wird dazu führen, dass der UN irgendein Prozentsatz bezahlt wird, der nicht mehr als ein Bestechungsgeld ist. Ich glaube nicht, dass wir diese Maßnahmen auch nur einen Augenblick lang anerkennen sollten!«
Der Bemerkung folgte Schweigen.
Ann Clayborne sagte schließlich: »Dieser Vertrag besagt auch, dass wir Maßnahmen ergreifen müssen, um die Zerstörung der planetaren Umwelt zu verhindern. Das steht wohl in Artikel sieben. Es scheint mir ausdrücklich das Terraformen zu verbieten, über die so viele von euch reden.«
Arkady sagte schnell: »Ich möchte sagen, dass wir auch diese Anweisung ignorieren. Unser Wohlergehen hängt davon ab.«
Dieser Gedanke war populärer als seine anderen; und mehre Leute sprachen sich dafür aus.
»Wenn ihr aber einen Artikel missachten wollt«, erklärte Arkady, »dann solltet ihr auch den Rest verwerfen. Nicht wahr?«
Es folgte ein unbehagliches Schweigen.
»All diese Veränderungen werden unvermeidlich eintreten«, sagte Sax Russell achselzuckend. »Das Leben auf dem Mars wird uns evolutionär verändern.«
Arkady schüttelte heftig den Kopf, so dass er sich ein wenig über dem Tisch drehte. »Nein, nein, nein! Geschichte ist keine Evolution! Das ist eine falsche Analogie. Evolution ist eine Sache von Umgebung und Zufall, die sich in Lebenszeiten und manchmal in Jahren abspielt, oder Monaten oder Tagen. Geschichte verläuft nach Lamarck! Wenn wir uns also entschließen, gewisse Institutionen auf dem Mars zu etablieren, wird es sie geben! Und wenn wir andere wählen, wird es diese geben.« Eine Handbewegung schloss sie alle ein, die an den Tischen Sitzenden und die, welche zwischen den Ranken umherschwebten. »Ich sage, wir sollten selbst diese Wahl treffen und das nicht Leuten hinten auf der Erde überlassen. Leuten, die eigentlich schon lange tot sind.«
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