Sie schlief in kurzen Etappen, eine Stunde hier, drei Stunden dort. Jedes Mal, wenn sie sich rührte, hatte sie, in ihrem Schlafsack schwebend, einen Moment der Desorientierung und glaubte wieder in der Novy Mir zu sein. Dann erinnerte sie sich, und Adrenalin peitschte sie munter. Sie eilte durch die Säle des Torus und riss die Wandverkleidungen aus Gold und Bronze herunter. Auf der Brücke traf sie auf Mary oder Raul, oder Marina oder sonst jemand für die Navigation. Alles noch richtig auf Kurs. Sie näherten sich dem Mars so schnell, dass es schien, sie könnten auf den Schirmen sehen, wie er größer wurde.
Sie mussten den Planeten um dreißig Kilometer verfehlen. Das war etwa ein Zehnmillionstel der zurückgelegten Distanz. Kein Problem, sagte Mary mit einem raschen Blick auf Arkady. Bis jetzt waren sie im Mantralauf und hofften, dass keines seiner verrückten Probleme auftauchen würde.
Die nicht mit Navigation beschäftigten Besatzungsmitglieder waren dafür eingesetzt, zu verschalen und alles auf die Dreh- und Stoßkräfte vorzubereiten, die zweieinhalb G mit sich bringen würden. Einige arbeiteten im freien Raum außerhalb des Schiffs, um zusätzliche Hitzeschilde und dergleichen anzubringen. Es war eine Menge zu tun, und dennoch schienen die Tage irgendwie lang zu sein.
Es würde mitten in der Nacht passieren. Darum blieben an diesem Abend alle Lichter eingeschaltet, und niemand ging zu Bett. Jeder hatte einen Posten — manche im Dienst, und die meisten nur abwartend. Maya saß in ihrem Sessel auf der Brücke, beobachtete die Schirme und Monitore und fand, dass sie genau so aussahen, als wäre das Ganze eine Simulation in Baikonur. Sollten sie wirklich in eine Umlaufbahn um den Mars eintreten?
Sie konnten es. Die Ares traf auf die dünne Hochatmosphäre des Mars mit 40000 Kilometern in der Stunde, und sofort fing das Schiff an, heftig zu vibrieren. Mayas Sessel schüttelte sie in raschen, harten Stößen, und es gab ein schwaches, tiefes Dröhnen, als ob sie durch einen Hochofen flogen. Und so sah es auch aus; denn die Schirme erglühten in einem intensiven orangeroten Schein. Komprimierte Luft prallte von den Hitzeschilden ab und fauchte an den Außenkameras vorbei, so dass die ganze Brücke in die Farbe des Mars getönt war. Dann kehrte die Schwere rachsüchtig zurück. Mayas Rippen wurden so gequetscht, dass sie kaum atmen konnte und ihre Sicht unscharf war. Es schmerzte!
Sie pflügten durch die dünne Luft mit einer Geschwindigkeit und in einer Höhe, die so berechnet waren, dass sie in eine von Aerodynamikern als Übergangszustand bezeichnete Strömung gerieten, einen Zustand halbwegs zwischen freier molekularer und Kontinuumsströmung. Freie Molekularströmung wäre vorzuziehen gewesen. Dabei wurde die auf den Hitzeschild treffende Luft zur Seite gedrückt und das resultierende Vakuum hauptsächlich durch molekulare Diffusion aufgefüllt werden. Aber sie bewegten sich dafür zu schnell und konnten nur knapp die entsetzliche Hitze der Kontinuumsströmung vermeiden, bei der sich Luft über den Schild und das Schiff als Teil einer Wellenwirkung bewegte. Das Beste, was sie tun konnten, war, den höchsten möglichen Kurs zu wählen, der sie hinreichend bremsen und in eine Übergangsströmung bringen würde, die zwischen freier molekularer und kontinuierlicher Strömung schwankte und die Fahrt daher bockig machte. Und darin lag die Gefahr. Falls sie auf eine Hochdruckzelle in der Marsatmosphäre stießen, wo Hitze oder Vibration oder Gravitationskräfte irgendeinen empfindlichen Mechanismus beschädigen würden, dann könnten sie in einen von Arkadys Alpträumen genau zu der Zeit geschleudert werden, da sie in ihren Sesseln zusammengepresst wurden und je fast zweihundert Kilogramm ›wiegen‹ würden — etwas, das zu simulieren Arkady nicht recht gelungen war. Maya dachte voller Ingrimm, dass sie in der realen Welt gerade dann, wenn sie gegenüber einer Gefahr am meisten verwundbar waren, auch am hilflosesten waren, damit fertig zu werden.
Aber wie das Schicksal es wollte, war das Wetter in der Stratosphäre des Mars stabil, und sie blieben im Mantralauf, der sich in der Realität als atemberaubende acht Minuten voller Gebrüll und Erschütterungen erwies. Maya konnte sich an keine Stunde erinnern, die so lange gedauert hätte. Sensoren zeigten, dass der Haupthitzeschild bis auf 600 Kelvin erwärmt worden war …
Und dann hörte die Vibration auf. Das Gebrüll verstummte. Sie waren aus der Atmosphäre hinausgeglitten, nachdem sie etwa ein Viertel des Planeten umrundet hatten. Sie waren um etwa 20.000 Kilometer in der Stunde langsamer geworden, und die Temperatur des Hitzeschildes hatte 710 Kelvin erreicht — fast die Obergrenze. Aber die Methode hatte funktioniert. Alles war still. Sie schwebten wieder gewichtslos dahin, nur durch ihre Sitzgurte festgehalten. Es war, als hätten sie völlig aufgehört, sich zu bewegen, als ob sie in reiner Stille schwimmen würden.
Schwankend schnallten sie sich los und flogen wie Geister in der kühlen Luft der Räume, einer Luft, die in ihren Ohren leise ertönte und die Stille betonte. Sie redeten zu laut und schüttelten sich die Hände. Maya fühlte sich benommen und konnte nicht verstehen, was die Leute zu ihr sagten — nicht weil sie sie nicht hören konnte, sondern weil sie nicht acht gab.
Zwölf schwerelose Stunden später führte ihr neuer Kurs wieder auf eine Periapsis in 35.000 Kilometern Entfernung vom Mars. Dort, an der tiefsten Stelle ihrer Umlaufbahn, zündeten sie die Hauptraketen für einen kurzen Impuls, der ihre Geschwindigkeit um etwa hundert Stundenkilometer erhöhte. Danach wurden sie wieder auf den Mars zu gezogen und beschrieben eine Ellipse, die sie bis auf 500 Kilometer an die Oberfläche heranführte. Sie waren jetzt im Orbit.
Jede elliptische Umrundung des Planeten dauerte etwa einen Tag. Während der nächsten zwei Monate würden die Computer Brennstöße ausführen, die ihre Bahn allmählich kreisförmig knapp innerhalb der von Phobos gestalten sollten. Aber die Landegruppen mussten noch davor zur Oberfläche hinuntergehen, während der tiefste Bahnpunkt so niedrig lag.
Sie verstauten die Hitzeschilde wieder und gingen in die Blasenkuppel, um sich umzuschauen.
In dieser Position nahm der Mars fast den ganzen Himmel ein, als ob sie in einem Höhenflugzeug darüber hinzögen. Die Tiefe von Valles Marineris war deutlich, ebenso die Höhe der vier großen Vulkane, deren breite Gipfel über dem Horizont erschienen, noch ehe die umgebende Landschaft in Sicht kam. Überall auf der Oberfläche gab es Krater. Deren runde Innenflächen waren lebhaft sandfarben, ein bisschen heller als die äußeren Gebiete. Vermutlich Staub. Die kurzen gezackten Bergketten waren dunkler als das umgebende Land — eine durch schwarze Schatten unterbrochene Rostfarbe. Aber sowohl die hellen wie die dunklen Farben waren nur leicht anders getönt als das allgegenwärtige rostig orangefarbene Rot, das alle Bergspitzen, Krater, Schluchten, Dünen und sogar der gekrümmte Streifen der von Staub erfüllten Atmosphäre aufwiesen, der hoch über der hellen Kurve des Planeten zu sehen war. Roter Mars! Er war durchbohrend und faszinierend. Das fühlten sie alle.
Sie verbrachten lange Stunden mit Arbeit, und das war endlich richtige Arbeit. Das Schiff musste teilweise zerlegt werden. Der Hauptkörper würde zuletzt in einem Orbit nahe Phobos geparkt werden, um als Rückkehrvehikel für den Notfall dienen zu können. Aber zwanzig Tanks von den äußeren Längen des Nabenschachts brauchten nur von der Ares getrennt und als planetare Landefahrzeuge hergerichtet zu werden, die die Kolonisten in Fünfergruppen hinunterbringen sollten. Das erste davon sollte sofort landen, wenn es abgekoppelt und vorbereitet war. Darum arbeiteten sie schichtweise rund um die Uhr und verbrachten viel Zeit im freien Raum. Sie rückten zu den Essenszeiten müde und heißhungrig an und führten laute Gespräche. Die Langeweile der Reise schien vergessen. Eines Nachts schwebte Maya im Baderaum und machte sich fertig für das Bett. Ihre Muskeln fühlten sich steif an wie seit Monaten nicht mehr. Um sie herum plauderten Nadia und Sasha und Yeli Zudov fröhlich miteinander, und bei dem warmen Schwall von geläufigem Russisch gewann sie plötzlich den Eindruck, dass alle glücklich waren. Sie befanden sich im letzten Moment ihrer Erwartung — einer Erwartung, die schon ein halbes Leben lang in ihren Herzen geruht hatte, oder schon seit ihrer Kindheit — und jetzt plötzlich unter ihnen erblüht war wie die Zeichnung eines Kindes vom Mars. Sie wurde groß und klein, als ob sie in einem Jojo-Spiel vor ihnen vorwärts und rückwärts hüpfte in all ihrem immensen Potential. Tabula rasa, leere Tafel. Eine leere rote Tafel. Alles war möglich, alles konnte passieren. In diesem Sinne waren sie gerade in diesen letzten Tagen vollkommen frei. Frei von der Vergangenheit, frei von der Zukunft, schwerelos in ihrer warmen Luft, wie Geister umherschwebend, um eine materielle Welt auszustatten … Im Spiegel erwischte Maya einen Blick auf das vom Zähneputzen verzerrte Grinsen ihres Gesichts und packte ein Geländer, um ihre Position zu halten. Ihr kam der Gedanke, dass sie vielleicht nie wieder so glücklich sein würde. Schönheit war das Versprechen von Glück, aber nicht das Glück selbst; und die erwartete Welt war oft reicher als irgend etwas Reales. Aber wer konnte das diesmal sagen? Es könnte jetzt sogar endlich die goldene Zeit sein.
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