Aber dann wurde ihr Blick stromabwärts nach vorn gelenkt. Die Südwand da oben brach wirklich zusammen und fiel in großen Felsbrocken herunter. Die Basis der Klippe explodierte in einer Staubwolke, die sich über die Schutthalde ausbreitete. Die oberen Abschnitte der Klippe rutschten in diese Staubwolke hinein und verschwanden. Nach einer Sekunde sah man die ganze Masse horizontal aus der Wolke herausfliegen — ein seltsamer Anblick. Der Lärm war schmerzhaft laut, sogar im Wageninnern. Danach bewegte sich ein langer, langsamer Erdrutsch in die Flut hinein, wobei die Steine das Eis zertrümmerten und den Abfluss blockierten. Dieser zeitweilige Damm schnitt viel von dem Canyonstrom ab, daher fingen die Ufer der Flut an zu steigen. Ann beobachtete die Eisschicht der Küstenlinie unter der gebrochenen Stelle. Dann waren es Eisschollen, die in einem See aus schwarzem, dampfendem, zischendem Wasser tanzten, das schnell zum Rover hin anstieg. Wenn der Erdrutsch lange genug dauerte, würde sie die Flut verschlingen.
Ann schaute auf den langen schwarzen Felssturz vor ihnen. Von ihm war nur noch ein Streifen über der Flut zu sehen. Aber der Matsch darunter stieg weiter. Es war ein richtiges Wettrennen. Die Badewanne des Großen Mannes, die ablief, während er neue volle Eimer hineingoß. Die Geschwindigkeit des Anstiegs veranlasste Ann, ihre Abschätzung der Strömungsrate zu erhöhen. Sie fühlte sich gelähmt, gelöst und auf irgendeine seltsame Weise heiter. Es war ihr gleichgültig, ob der Damm brechen würde, ehe die Flut sie erreichte, oder nicht. Und in dem überwältigenden Getöse fühlte sie kein Bedürfnis, mit den anderen darüber zu sprechen. Das war unmöglich. Sie fand, dass sie irgendwie die Flut bejubelte. Sie würde ihnen allen nützen.
Aber dann verschwand der durch den Erdrutsch gebildete Damm unter dem schmutzfarbenen Matsch und rutschte langsam, gleichmäßig zusammenbrechend stromabwärts. Der kurzlebige See sank zusehends. Eisblöcke auf seiner Oberfläche krachten mit lautem Getöse zusammen und schossen hoch in die Luft. Das alles war phantastisch laut und musste jedes Mal wohl mehr als hundert Dezibel betragen. Sie steckte sich die Finger in die Ohren. Der Wagen hüpfte auf und ab. Sie sah, dass von den Klippen stromabwärts weitere Erdrutsche abgingen, ohne Zweifel wegen Unterspülung durch den jähen Anstieg der Flut. Die dadurch bewirkten Beben lösten weitere Zusammenbrüche aus, bis es so aussah, als ob sich der ganze Canyon füllen würde. Es schien unmöglich, dass in all dem Krach und Vibrieren ihre kleinen Wagen überleben würden. Die Reisenden klammerten sich an ihre Lehnstühle oder lagen wie Ann auf dem Boden, isoliert durch den Lärm. Ihre Venen durchströmte eine schreckliche Mischung aus Eis und Adrenalin. Selbst Ann, der es gleichgültig war, fand sich kurzatmig und hatte ihre Muskeln gegen die stürmischen Bewegungen angespannt.
Als sie wieder hören konnten, was sie einander zubrüllten, fragten sie Ann, was geschehen sei. Sie blickte trübselig aus dem Fenster und ignorierte sie. Offenbar würden sie, jedenfalls für den Moment, überleben. Die Oberfläche der Flut bildete jetzt das chaotisch zerrissenste Terrain, das sie je gesehen hatte. Das Eis war zu einer Fläche scharfkantiger Scherben zerbrochen. Die höchste Stelle des Sees war an ihrem Absatz emporgestiegen, bis er nur noch etwas unterhalb von ihnen lag. Der wieder freigelegte feuchte Boden hatte sich in weniger als zwanzig Sekunden von rostigem Schwarz zu schmutzigem Weiß verändert. Frostzeit auf dem Mars.
Sax war diese ganze Zeit in seinem Sessel geblieben, gefesselt durch das Flimmern auf seinem Schirm. Eine Menge Wasser würde verdunsten oder vielmehr gefrieren und sublimieren, murmelte er zu niemandem, während er arbeitete. Es war eine schwer karbonisierte Salzlauge, würde aber als mit Staub gefüllter Schnee enden, der irgendwo anders herunterkäme. Die Atmosphäre könnte wasserhaltig genug sein, dass es mehrere Male schneien würde oder sogar regelmäßig in Zyklen von Niederschlag und Sublimation. Somit würde das Wasser der Flut schön gleichmäßig planetenweit verteilt werden, außer vielleicht in den größten Höhen. Die Albedo würde dramatisch steigen. Man müsste sie senken, vielleicht durch Förderung der Schneealgen, die die Acherongruppe geschaffen hatte. (Aber Acheron gab es nicht mehr, sagte Ann ihm in Gedanken.) Schwarzes Eis würde bei Tag schmelzen und bei Nacht gefrieren. Sublimation und Ausfällung. Und so würden sie eine Wasserlandschaft haben. Ströme würden sich sammeln, Teiche bilden, abwärts fließen, gefrieren und expandieren in Spalten des Gesteins, sublimieren, schneien, schmelzen und wieder fließen. Eine vergletscherte oder schlammige Welt während der meisten Zeit. Aber nichtsdestoweniger eine Wasserlandschaft.
Und jedes Merkmal des urtümlichen Mars würde dahinschmelzen. Der Rote Mars wäre dahin.
Ann lag beim Fenster auf dem Boden. Ihre Tränen strömten dahin wie die Flut. Über den Damm ihrer Nase hinab, bis ihre rechte Wange, das Ohr und die Seite ihres Gesichts nass waren.
»Dies wird es erschweren, den Canyon hinunterzugelangen«, sagte Michel mit einem leicht galligen Lächeln, und aus dem nächsten Wagen lachte Frank. Tatsächlich sah es so aus, dass es für sie unmöglich wäre, auch nur fünf Kilometer weiterzukommen. Direkt vor ihnen war die Canyonstraße unter dem großen Erdrutsch verschwunden. Das neue Steingeröll war zertrümmert und instabil, unterspült durch die Flut und von oben durch nachfolgende Brocken von dem neuen Abhang bombardiert.
Die anderen debattierten lange, ob man wenigstens einen Versuch machen sollte. Sie mussten laut sprechen, um über dem einem Düsenflugzeug ähnlichen Lärm der Flut gehört zu werden, der noch unablässig anhielt. Nadia hielt den Abhang für selbstmörderisch, aber Michel und Kasei waren sich ziemlich sicher, dass sie einen Weg finden könnten; und es gelang ihnen nach einer ganztägigen Erkundung zu Fuß, Nadia zur Zustimmung zu bewegen. Und der Rest war dafür, wenn Nadia es war. Und so verteilten sie sich am nächsten Tag, vor Beobachtung geschützt durch den allgemeinen Staubsturm und den Dampf der Flut, auf die zwei Wagen und fuhren langsam auf die Hangrutschung hinaus.
Sie bestand aus einer groben Masse von Kies und Sand, freigiebig mit Felsblöcken versetzt. Es gab aber eine dem Absatz darunter entsprechende Zone, die relativ eben war. Sie war das einzige Terrain, das eine Passage möglich machte. Es galt, einen unbehinderten Weg zu finden über eine Fläche wie schlecht gemischter Zement und herum um Felsblöcke und vorbei an einem gelegentlich klaffenden Loch. Michel fuhr kühn voran mit einer an Sturheit grenzenden Rücksichtslosigkeit. »Maßnahmen der Verzweiflung«, erklärte er fröhlich. »Könnt ihr euch vorstellen, unter normalen Verhältnissen auf einen solchen Boden zu geraten? Das wäre verrückt.«
»Verrückt ist es jetzt auch«, sagte Nadia mürrisch.
»Nun, was können wir tun? Wir können nicht umkehren, und wir können nicht aufgeben. Das sind Zeiten, die den Männern auf die Nerven gehen.«
»Aber Frauen machen sich gut.«
»Ich habe nur zitiert. Du weißt, was ich meine. Es ist einfach unmöglich umzukehren. Die Höhe von lus wird von Wand zu Wand überflutet sein. Ich glaube, das macht mich irgendwie glücklich. Sind wir jemals so frei gewesen, keine Wahl treffen zu müssen? Die Vergangenheit ist ausgelöscht, nur auf das Jetzt kommt es an. Die Gegenwart und die Zukunft. Und die Zukunft ist dieses Feld von Steinen, und wir sind hier. Und ihr wisst, dass man nie alle seine Kraft zusammennimmt, bis man weiß, dass es keinen Weg zurück gibt, dass der einzige Weg nach vorn führt.«
Und so fuhren sie vorwärts. Aber die Munterkeit Michels wurde stark gemindert, als der zweite Wagen in ein Loch stürzte, das durch eine Art Falltür aus Steinen verborgen gewesen war. Mit einiger Mühe gelang es ihnen, die vordere Schleuse zu öffnen und Kasei, Maya, Frank und Nadia herauszuziehen. Aber es gab keinerlei Möglichkeit, den Wagen freizubekommen. Ihnen fehlte es an Hebezeug und einem Ansatzpunkt. Also brachten sie alle Versorgungsgüter in den Führungswagen, bis der gänzlich voll gestopft war. Und sie zogen weiter, zu acht und mit ihren Vorräten, jetzt alle in einem einzigen Wagen.
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