Dann parkte er an einem Aussichtspunkt, ging in den Wald hinein und setzte sich zwischen den Wurzeln eines großen Baumes hin. Niemand in der Runde, eine warme Herbstnacht, die Erde dunkel und wie ein Pelz von Bäumen bedeckt. Zikaden ließen ihr eigenartiges Lied ertönen und Grillen stießen ihre letzten Klageschreie aus im Vorgefühl des ersten Frostes, der sie töten würde. Er fühlte sich so sonderbar … Konnte er diese Welt wirklich verlassen? Während er so auf der Erde saß, hatte er sich gewünscht, er könnte wie ein Wechselbalg in eine Felsspalte rutschen und wieder herauskommen als etwas Besseres, etwas Mächtiges, Edles, Langlebiges — so etwas wie ein Baum. Aber natürlich geschah nichts. Er lag auf dem Boden, schon von ihm abgeschnitten. Schon ein Marsmensch.
Und er erwachte und war den ganzen Rest des Tages verstört.
Danach, noch schlimmer, träumte er von John. Er träumte von der Nacht, da er in Washington gesessen und John im Fernsehen gesehen hatte, wie er zum ersten Mal auf den Mars hinausging, dicht gefolgt von den anderen drei. Frank verließ die offizielle Feier bei der NASA und ging durch die Straßen in einer heißen Nacht von D.C. im Sommer 2020. Es hatte zu seinem Plan gehört, John die erste Landung machen zu lassen. Er hatte ihm das zukommen lassen, wie man eine Königin im Schach opfert, weil jene erste Crew auf der Reise von der Strahlung geröstet werden würde und gemäß den Vorschriften nach ihrer Rückkehr für immer auf dem Boden bleiben müsste. Und dann wurde das Feld für die nächste Ausreise freigegeben, für die Touristen, die endgültig dort bleiben würden. Das war die eigentliche Aufgabe und die, welche Frank zu leiten gedachte.
Aber in jener historischen Nacht befand er sich in miserabler Stimmung. Er kehrte zu seinem Apartment nahe Dupont Circle zurück und ging dann wieder los ohne sein FBI-Abzeichen, schlüpfte in eine dunkle Bar, nahm Platz und sah sich über die Köpfe der Barkeeper das Fernsehen an. Das Licht des Mars strömte aus dem Fernseher und rötete den dunklen Raum. Er wurde betrunken und hörte sich Johns alberne Rede an. Seine Stimmung wurde immer schlechter. In der Bar war es laut, und die Leute passten nicht auf. Nicht, dass man die Landung nicht beachtet hätte; aber die stellte hier nur eine Art von Unterhaltung dar, auf dem gleichen Niveau wie das Spiel der Bullets, auf das ein Barkeeper immer umschaltete. Dann wieder zurück auf die Szene in Chryse Planitia. Sein Nachbar schimpfte darüber. »Basketball müsste auf dem Mars ’ne tolle Sache sein«, sagte Frank in dem Florida-Akzent, den er längst abgelegt hatte.
»Müssen den Reifen höher legen, sonst brechen sie sich den Hals.«
»Sicher, aber denk an die Sprünge. Leicht zwanzig Fuß.«
»Na ja, auch ihr weißen Jungs springt da hoch. Aber bleibt lieber vom Korb weg, sonst kriegt ihr die gleichen Schwierigkeiten wie hier.«
Frank lachte. Aber draußen war es heiß, eine dumpfe D.C.-Sommernacht, und er ging nach Hause in einer miserablen Stimmung, die mit jedem Schritt noch schlimmer wurde. Als er auf einen Bettler vor Dupont traf, zückte er eine Zehn-Dollarnote und warf sie dem Kerl zu. Als der hinlangte, stieß er ihn fort und rief: »Hau ab! Such dir Arbeit!« Aber dann kamen Leute aus der Metro, und er eilte davon, schockiert und wütend. Bettler sackten in den Eingängen zusammen. Da waren Menschen auf dem Mars, und in der Hauptstadt der Nation gab es Bettler, an denen alle Rechtskundigen täglich vorbeigingen, deren Gerede von Freiheit und Gerechtigkeit nur eine Tarnung ihrer Gier war. »Wir werden es auf dem Mars anders machen«, sagte Frank giftig. Und ganz plötzlich wünschte er sich, dort zu sein, ohne umständliche Jahre des Wartens und Kämpfens. »Besorg dir einen verdammten Job«, brüllte er einen anderen obdachlosen Mann an. Dann weiter zu seinem Appartementhaus, hinter dem im Foyer am Pult gelangweilte Sicherheitsleute saßen, die ihr ganzes Leben da mit Nichtstun verbrachten. Oben angekommen, zitterten seine Hände so stark, dass er erst seine Tür nicht aufkriegte. Als er dann drinnen stand, erstarrte er, schockiert von all dem geschniegelten Mobiliar eines höheren Beamten, das Ganze eine Theaterausstattung, darauf abgestellt, seltene Besucher zu beeindrucken, tatsächlich nur von der NASA und dem FBI. Nichts davon seines! Nichts als ein Plan.
Und dann erwachte er, allein, in einem Rover auf der Großen Böschung.
Schließlich kehrte er von seiner schrecklichen Expedition voller Träume zurück. Wieder in der Karawane fand er es schwer zu sprechen. Er wurde von Zeyk zum Kaffee eingeladen und schluckte eine Tablette gemischten Opiats, um sich in der Gesellschaft von Männern zu entspannen. In Zeyks Rover saß er auf seinem Platz und wartete darauf, dass Zeyk kleine Tassen mit durch Nelken gewürztem Kaffee austeilte. Unsi Al-Khal saß zu seiner Linken und redete langatmig über die islamische Vision der Geschichte und wie sie in der Dschahiliya oder vorislamischen Periode begonnen hatte. Al-Khal war nie freundlich gewesen; und als Frank ihm in einer üblichen höflichen Geste die zu ihm kommende Tasse weiterzureichen versuchte, bestand Al-Khal darauf, dass Frank die Ehre gebühre und er sie ihm nicht rauben wolle. Eine typische Kränkung aus übertriebener Höflichkeit, wieder die Hierarchie. Man konnte keinem, der im System höher stand, eine Gunst erweisen. Gefälligkeiten gab es nur abwärts. Alphamännchen, Hackordnungen. Sie hätten wirklich ebenso gut wieder auf der Savanne (oder in Washington) sein können. Wiederum nichts weiter als Primatentaktik.
Frank knirschte mit den Zähnen, und als Al-Khal wieder zu predigen anfing, sagte er: »Wie ist es mit euren Frauen?«
Sie waren aus der Fassung gebracht, und Al-Khal zuckte die Achseln. »Im Islam haben Männer und Frauen verschiedene Rollen. Genau wie im Westen. Das hat biologische Gründe.«
Frank schüttelte den Kopf und fühlte die Wirkung der Tabletten und das finstere Gewicht der Vergangenheit. Der Druck eines ständigen Wasserreservoirs auf dem Boden seines Denkens verstärkte sich, etwas gab nach, und plötzlich war ihm alles egal, und er war es satt, so zu tun als ob. Er war all der Maske überdrüssig, des klebrigen Öls, welches der Gesellschaft erlaubte, auf ihrem knirschenden schrecklichen Weg weiterzugehen.
»Ja«, sagte er. »Aber das ist doch Sklaverei, nicht wahr?«
Die Männer um ihn herum waren über dieses Wort schockiert und erstarrten.
»Nicht wahr?« wiederholte er und fühlte hilflos die Worte aus seiner Kehle sprudeln. »Eure Frauen und Töchter sind machtlos, und das ist Sklaverei. Ihr mögt sie gut behandeln, und sie können Sklavinnen mit besonderen und intimen Kräften über ihre Herren sein, aber die Beziehung von Herren zu Sklaven führt darauf hinaus, dass alle diese Beziehungen verzerrt sind und bis zum Zerreißen gespannt.«
Zeyk rümpfte die Nase. »Das ist nicht die gelebte Erfahrung davon. Das kann ich dir versichern. Du solltest unsere Poesie hören.«
»Aber würden eure Frauen mir das bestätigen?«
»Ja«, sagte Zeyk im Brustton absoluter Überzeugung.
»Mag sein. Aber schau, die erfolgreichsten Frauen unter euch sind immer bescheiden und ergeben. Sie sind peinlich darum bemüht, das System zu ehren. Das sind diejenigen, welche ihren Gatten und Söhnen helfen, im System aufzusteigen. Um damit Erfolg zu haben, müssen sie dieses System stärken, das sie unterdrückt. Das hat gefährliche Auswirkungen. Und der Zyklus wiederholt sich Generation um Generation. Getragen von Herren und Sklavinnen gleichermaßen.«
»Der Gebrauch des Wortes Sklave«, sagte Al-Khal langsam und machte eine Pause, »ist offensiv; denn er nimmt ein Urteil vorweg. Das Urteil über eine Kultur, die du nicht wirklich kennst.«
»Sicher. Ich sage nur, wie es von außen aussieht. Das kann für einen fortschrittlichen Muslim nur von Interesse sein. Ist dies der göttliche Plan, für dessen Verwirklichung in der Geschichte ihr kämpft? Die Gesetze sind dazu da, dass man sie liest und ihre Einhaltung überwacht; und für mich sieht das wie eine Form von Sklaverei aus. Und ihr wisst, dass wir Kriege geführt haben, um die Sklaverei abzuschaffen. Und wir haben Südafrika aus der Völkergemeinschaft ausgeschlossen, weil dessen Gesetze so angelegt waren, dass die Schwarzen nie so gut leben konnten wie die Weißen. Ihr aber tut das die ganze Zeit. Wenn irgendwelche Menschen auf der Welt so behandelt würden, wie ihr eure Frauen behandelt, würde die UN diese Nation ächten. Aber weil es eine Angelegenheit der Frauen ist, schauen die Männer, die an der Macht sind, weg. Sie sagen, es sei eine Sache der Kultur, der Religion, in die man sich nicht einmischen dürfe. Oder es heißt deshalb nicht Sklaverei, weil es nur eine Übertreibung davon ist, wie Frauen anderswo behandelt werden.«
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