Also verfolgte Pauline sie. Sie brauchten nur ein paar Minuten, um in den Sicherheitskontrollraum zu gelangen, wo sie auf Chang und andere trafen. Sie holten die Kamerakassetten. John saß vor Paulines Bildschirm und sah mit ihnen zu, wie sie die Spulen zurücklaufen ließen und merkten, dass sie nur eine Stunde lang waren und die Ereignisse des Nachmittags gelöscht waren. Das würde ihnen einiges zu denken geben. Er lächelte grimmig und sagte Pauline, sie solle sich aus dem System zurückziehen.
Eine Welle von Erschöpfung überkam ihn. Es war erst elf Uhr, aber alles Adrenalin und die morgendliche Dosis Omegendorph waren verflogen, und er war müde. Er setzte sich auf sein Bett, erinnerte sich dann aber daran, was zuletzt dort gewesen war, und stand auf. Schließlich schlief er auf dem Fußboden.
Während des Zeitrutsches wurde er von Spencer Jackson geweckt mit der Nachricht, dass man in einem Roboterbehälter eine Leiche gefunden hätte. Er ging hin, stand schlapp neben Spencer in der Klinik und starrte auf den Leichnam von Yashika Mui, während einige Detektive ihn müde beäugten. Die diagnostische Maschine war bei einer Autopsie so gut wie jede andere, vielleicht sogar besser. Musterproben zeigten ein Blutgerinnungsmittel an. John ordnete finster eine volle Kriminal-Autopsie an. Körper und Kleider von Mui mussten untersucht und alle mikroskopischen Partikel gegenüber seinem Genom und alle Fremdpartikel überprüft werden im Vergleich mit der Liste von Leuten, die derzeit in Underhill waren. John sah die UNOMA-Detektive scharf an, als er diese Anweisung gab; aber sie zuckten nicht mit der Wimper. Wahrscheinlich hatten sie Handschuhe und Schutzanzüge getragen, oder das ganze Ding mit Fernbedienung erledigt wie er selbst. Er musste sich abwenden, um seine Enttäuschung zu verbergen. Er konnte nicht ausplaudern, dass er Bescheid wusste.
Aber dann wussten sie natürlich, dass er die Leiche dorthin geschafft hatte. Also mussten sie argwöhnen, dass er es war, der sie entfernt und die Kamerabänder gelöscht hatte. Aber sie konnten nicht sicher sein, und es gab keinen Grund, etwas aufzugeben.
Eine Stunde später ging er wieder in sein Zimmer und legte sich wieder auf den Boden. Obwohl er noch erschöpft war, konnte er nicht mehr schlafen. Er starrte an die Decke und dachte nach. Über alles, was er erfahren hatte.
Kurz vor der Morgendämmerung hatte er den Eindruck, klargekommen zu sein. Er gab es auf zu schlafen und stand auf, um wieder spazieren zu gehen. Er musste im Freien sein, weg von der Welt der Menschen und all ihrer widerlichen Korruption, hinaus in den großen Windesrausch, der durch den fliegenden Staub des Sturms so dramatisch zum Ausdruck kam.
Aber als er aus der Tür der Schleuse trat, waren über seinem Kopf Sterne. Ihre ganze Fülle, alle Tausende brannten wie einst, ohne das leichteste Flimmern oder Zittern. Die schwachen waren so dicht, dass sogar der schwarze Himmel einen weißen Schimmer hatte, als ob der ganze Himmel die Milchstraße wäre.
Als er sich von seiner Verwunderung und dem fast vergessenen Wunder der Sterne erholt hatte, stellte er in seinem Interkom die Nachrichten ein.
Sie lösten ein Pandämonium aus. Leute hörten sie, weckten ihre Freunde und rasten in den Umkleideraum, um einen Schutzanzug zu erwischen, ehe der Vorrat erschöpft war. Und die Schleusentüren spieen unentwegt Volksmengen aus.
Der Himmel im Osten wurde dunkelrot und dann rasch heller. Der ganze Himmel nahm eine dunkelrosa Tönung an und fing dann an zu glühen. Die Sterne verschwanden zu Hunderten, bis nur noch Venus und Erde im Osten schwebten vor einer ständig zunehmenden Helligkeit. Der Himmel im Osten leuchtete noch stärker, als man am Tage glaubte erwarten zu können. Sogar hinter den Gesichtsscheiben tränten die Augen, und manche Leute schrien über die allgemeine Frequenz laut bei dem Anblick. Gestalten torkelten herum, das Interkom plapperte, und der Himmel wurde unmöglicherweise immer noch heller, bis er bersten zu wollen schien. Er pulsierte in leuchtend rosigem Licht. Die Punkte, welche Venus und Erde darstellten, gingen darin unter. Und dann brach die Sonne über den Horizont und schoss über die Ebene wie eine thermonukleare Bombe. Die Menschen brüllten, sprangen auf und ab und rannten zwischen die schwarzen Schatten der Felsen und Gebäude. Alle nach Osten gerichteten Wände wurden große Flächen von fahlgelber Farbe, deren glasierte Mosaiken kaum direkt anzusehen waren. Die Luft war klar wie Glas und schien eine feste Substanz zu sein, die die in ihr befindlichen Dinge messerscharf deutlich erscheinen ließ.
John ging von den Volksmengen fort ostwärts in Richtung Tschernobyl. Er stellte sein Interkom ab. Der Himmel war dunkler rot, als er sich erinnerte, mit einem Hauch von Purpur im Zenith. Alle Leute in Underhill wurden verrückt. Viele dort hatten noch nie den Sonnenschein auf dem Mars gesehen, und ohne Zweifel hatten sie den Eindruck, ihr ganzes Leben im Großen Sturm verbracht zu haben. Jetzt war er vorbei, und sie spazierten draußen im Sonnenschein, trunken davon. Sie rutschten auf rosa Eis nach links und rechts, veranstalteten Schlachten mit gelben Schneebällen und erstiegen die überfrorenen Pyramiden. Als John das sah, machte er kehrt und ging die Stufen der letzten Pyramide selbst hinauf, um einen Blick auf die Hügel und Täler um Underhill zu werfen. Die waren etwas von Reif und Treibsand bedeckt, aber sonst unverändert. Er schaltete die allgemeine Frequenz ein, schaltete sie aber wieder aus. Die Menschen darin schrien immer noch nach Schutzanzügen, und niemand draußen beachtete sie. Seit Sonnenaufgang war eine Stunde vergangen, schrie jemand, obwohl das John schwer glaublich erschien. Er schüttelte den Kopf. Die krächzenden Stimmen und die Erinnerung an die Leiche auf seinem Bett machten es ihm schwer, viel Freude am Ende des Sturms zu haben.
Schließlich ging er wieder hinein. Er gab seinen Schutzanzug einem Paar Frauen von seiner Größe, die darüber stritten, wer ihn als erste bekommen sollte, ging dann ins Kommunikationszentrum und rief Sax in Echus an. Als er ihn bekam, gratulierte er ihm zum Ende des Sturms.
Sax wehrte das brüsk ab, als wäre es schon vor Jahren passiert. Er sagte: »Sie sind auf Amor 2051 B gelandet.« Das war der Eis-Asteroid, den sie für die Einbringung ins Marsorbit gefunden harten. Sie waren dabei, Raketen auf ihm zu installieren, die ihn auf einen Kurs schieben würden, der dem der Ares ähnlich wäre. Ohne Hitzeschild würde die Luftbremsung ihn verglühen lassen. Alles sah gut aus für Eintritt in die Marsumlaufbahn in etwa sechs Monaten. Das war die große Nachricht, wie Sax auf seine zwinkernde ruhige Art zu verstehen gab. Der Große Sturm war schon Geschichte.
John musste lachen. Aber dann dachte er an Yashika Mui und erzählte Sax davon, weil er auch einem anderen die Stimmung vermiesen wollte. Sax zwinkerte nur und sagte schließlich: »Sie machen jetzt ernst.« John verabschiedete sich und schaltete ab.
Er ging wieder zurück durch die Gewölbe, verwirrt durch eine krass widersprüchliche Mischung von guten und schlechten Emotionen. Er kam in sein Zimmer und nahm ein Omegendorph und eines der neuen Pandorphs, die Spencer ihm gegeben hatte. Dann ging er hinaus ins zentrale Atrium des Quadrats und spazierte zwischen den Pflanzen umher, die im Sturm alle dürr aufgeschossen waren und sich den Leuchtröhren in der Höhe zuwandten. Der Himmel war immer klar, rosa und sehr hell. Viele Leute, die zuerst ins Freie gegangen waren, waren jetzt wieder zurück und hielten eine Party im Atrium zwischen den Beeten ab. Er traf auf einige neue Freunde, manche Bekannte und hauptsächlich Fremde. Er ging wieder in die Gewölbe durch Räume voller Unbekannter, die ihn manchmal fröhlich anriefen, wenn er hineinkam. Wenn sie lange genug schrieen: »Reden!«, stellte er sich wohl auf einen Stuhl und ratterte etwas herunter. Er fühlte die Endorphine, deren Wirkung durch den Gedanken an den toten Mann heute aufgehoben wurde. Manchmal war er recht heftig und wusste nie, was er sagen würde, bis es aus ihm herauskam. Die Leute würden sagen, sie hätten John Boone an dem Tage, wo der Große Sturm aufhörte, sternhagelvoll betrunken gesehen. Fein, dachte er, mochten sie sagen, was sie wollten. Ihm machte das schon nichts mehr aus, soweit es seine Legende betraf.
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