Maya zog den Mund zusammen und sah Vlad an.
Er sagte: »Subarashii und Amexx erhöhen die Zahl der Truppen der Übergangsbehörde. Wir haben von Hiroko eine Nachricht bekommen. Sie haben die Einheit, welche Zygote angegriffen hat, zu einer Art Expeditionstruppe verstärkt, die sich jetzt nach Süden bewegt, zwischen Argyre und Hellas. Sie scheinen nicht zu wissen, wo sich die meisten verborgenen Zufluchtsstätten befinden, kontrollieren aber nacheinander alle heißen Punkte. Sie sind in Christianopolis eingedrungen und haben es als Operationsbasis übernommen. Es sind ungefähr fünfhundert Mann, schwer bewaffnet und aus dem Orbit geschützt. Hiroko sagt, daß sie nur mit Mühe Cojote, Kasei und Harmakhis davon abhalten kann, die Guerilleros des Mars zu einem Angriff gegen sie zu führen. Wenn sie aber noch mehr Sanktuarien finden, sind die Radikalen zum Angriff entschlossen.«
Damit waren die wilden jungen Burschen von Zygote gemeint, dachte Maya bekümmert. Sie hatten sie mühsam großgezogen, die Ektogenen und die ganze Sansei-Generation — jetzt fast vierzig und kampfeslüstern. Und Peter und Kasei und der Rest der Nisseigeneration näherten sich den Siebzigern und hätten im regulären Lauf der Dinge längst die Anführer ihrer Welt sein müssen. Aber sie standen immer noch im Schatten ihrer nicht sterbenden Eltern. Welche Gefühle mochte das bei ihnen wecken? Wie konnten sie mit solchen Gefühlen handeln? Vielleicht dachten sich einige, daß eine neue Revolution gerade richtig wäre, um ihnen ihre Chance zu geben. Revolution war schließlich das Reich der Jungen.
Die Alten saßen da und beobachteten schweigend die Enten. Eine düstere, niedergeschlagene Gruppe. Maya fragte: »Was ist aus den Christen geworden?«
»Einige sind nach Hiranyagarbha gegangen. Der Rest ist dageblieben.«
Falls die Kräfte der Übergangsbehörde die Gebirge im Süden eroberten, dann könnte1 der Untergrund die Städte infiltriert haben. Aber zu welchem Zweck? So dünn verstreut könnten sie nicht der Ordnung zweier Welten trotzen, da diese auf der Erde ihre Basis hatte. Maya hatte plötzlich das unangenehme Gefühl, das ganze Unabhängigkeitsprojekt wäre nur ein Traum, eine kompensatorische Phantasie für die gebrechlichen Überlebenden einer verlorenen Sache.
»Weißt du, weshalb diese Aufstockung der Sicherheit erfolgt ist?« fragte sie Sax. »Das haben jene großen Sabotagen bewirkt.«
Sax ließ nicht erkennen, ob er ihr zuhörte.
»Es ist jammerschade, daß wir uns in Dorsa Brevia nicht auf einen Aktionsplan festgelegt haben«, sagte Vlad.
»Dorsa Brevia«, sagte Maya ärgerlich.
»Es war eine gute Idee«, widersprach Marina.
»Vielleicht. Aber ohne einen von allen angenommenen Aktionsplan war das konstitutionelle Zeug bloß … « Maya machte eine Handbewegung, »ein Bau von Sandburgen. Ein Spiel.«
»Der Gedanke war«, sagte Vlad, »daß jede Gruppe tun würde, was sie für das beste hielt.«
»Das war der Gedanke im Jahre einundsechzig«, erklärte Maya. »Und wenn jetzt Cojote und die Radikalen einen Guerillakrieg anfangen und es wirklich losgeht, dann sind wir genau wieder so weit wie damals 2061.«
»Was denkst du, das wir tun sollten?« fragte Ursula neugierig.
»Wir sollten selbst die Macht übernehmen! Wir machen den Plan, und wir entscheiden, was zu tun ist. Wir verbreiten das im ganzen Untergrund. Wenn wir dafür nicht die Verantwortung übernehmen, dann ist es unsere Schuld, was immer geschieht.«
»Das ist es, was Arkady versucht hat«, erklärte Vlad.
»Arkady hat es wenigstens versucht! Wir sollten auf dem aufbauen, was an seiner Arbeit gut gewesen ist.« Sie lachte kurz. »Ich hätte nie gedacht, daß ich mich selbst dies würde sagen hören. Aber wir sollten mit den Bogdanovisten zusammenarbeiten und dann mit jedem, der zu uns stoßen will. Wir müssen die Führung übernehmen! Wir sind die Ersten Hundert, wir sind die einzigen mit der Autorität, es zu schaffen. Die von Sabishii werden uns helfen, und die Bogdanovisten werden anrücken.«
»Wir brauchen auch Praxis«, sagte Vlad. »Praxis und die Schweizer. Es muß ein Staatsstreich werden und kein allgemeiner Krieg.«
»Praxis will uns helfen«, sagte Marina. »Was ist aber mit den Radikalen?«
»Wir müssen sie zwingen«, erklärte Maya. »Ihre Versorgung abschneiden, ihnen ihre Mitglieder wegnehmen … «
»Das führt zum Bürgerkrieg«, wandte Ursula ein.
»Nun ja, man muß ihnen Einhalt gebieten! Wenn sie eine Revolte zu früh beginnen und die Metanationalen über uns kommen, ehe wir bereit sind, sind wir verloren. Alle die unkoordinierten Angriffe bei ihnen müßten aufhören. Sie erreichen nichts, sondern erhöhen nur die Unsicherheit und machen die Dinge für uns noch schwieriger. Solche Sachen, wie Deimos aus seiner Bahn stoßen, machen sie nur noch mehr auf unsere Präsenz aufmerksam, ohne sonst etwas auszurichten.«
Sax, der immer noch die Enten beobachtete, sagte in seiner eigenartigen flotten Art: »Es gibt einhundertvierzehn Schiffe für die Verbindung zwischen Erde und Mars. Vierundsiebzig Objekte sind im Orbit — im Orbit um den Mars. Der neue Clarke ist eine voll verteidigte Raumstation. Deimos stand für dasselbe zur Verfügung als militärische Basis. Eine Waffenplattform.«
»Es war ein leerer Mond«, sagte Maya. »Was die Vehikel im Orbit angeht, so werden wir uns damit zu gegebener Zeit beschäftigen müssen*.«
Sax schien wieder nicht zur Kenntnis zu nehmen, daß sie etwas gesagt hatte. Er starrte auf die verfluchten Enten und blinzelte leicht. Von Zeit zu Zeit sah er Marina an.
Marina sagte: »Es muß eine richtige Enthauptung sein, wie Nirgal und Art in Dorsa Brevia gesagt haben.«
»Mal sehen, ob wir den Hals finden können«, meinte Vlad trocken.
Maya wurde immer noch wütender auf Sax und sagte: »Wir sollten uns jeder eine der größeren Städte vornehmen und das Volk dort zu einem vereinigten Widerstand organisieren. Ich möchte nach Hellas zurückkehren.«
»Nadia und Art sind in South Fossa«, sagte Marina. »Aber wir werden alle der Ersten Hundert brauchen, damit sie sich mit uns vereinigen, wenn das funktionieren soll.«
»Die Ersten Neununddreißig«, sagte Sax.
»Wir brauchen auch Hiroko«, warf Vlad ein. »Und sie wird auch Cojote etwas zur Vernunft bringen.«
»Das schafft keiner«, sagte Marina. »Aber Hiroko brauchen wir wirklich. Ich werde nach Dorsa Brevia gehen und mit ihr reden, und wir werden versuchen, den Süden in Schach zu halten.«
»Sax?« fragte Vlad.
Sax schreckte aus seiner Träumerei auf und blinzelte Vlad an. Immer noch kein Blick für Maya, selbst als sie über ihren Plan diskutierten. Er sagte: »Integrierte Seuchenbekämpfung. Man zieht zwischen dem Unkraut kräftigere Pflanzen. Und dann wird es von diesen verdrängt. Ich werde Burroughs übernehmen.«
Wütend, weil Sax ihr die kalte Schulter zeigte, stand Maya auf und ging um den kleinen Teich herum. Sie blieb am gegenüberliegenden Ufer stehen und packte mit beiden Händen das Geländer am Weg. Sie sah zu den anderen drüben am Wasser hinüber, die auf ihren Bänken saßen wie Rentner, die über Essen, das Wetter, die Enten und das letzte Schachturnier schwatzten. Verdammt Sax! Würde er ihr für immer Phyllis zum Vorwurf machen, dieses abscheuliche Weibsstück?
Plötzlich vernahm sie schwach, aber deutlich ihre Stimmen. Hinter dem Weg befand sich eine gekrümmte Wand, die fast um den ganzen Teich herumlief, und ihre Position war ihnen genau gegenüber. Offenbar wirkte die Wand wie eine perfekte kleine Flüstergalerie. Die zarten Stimmen ertönten einen Sekundenbruchteil später als die kleinen Mundbewegungen.
»Zu schade, daß Arkady nicht mehr lebt«, sagte Vlad. »Die Bogdanovisten würden sehr viel leichter einlenken.«
»Ja«, sagte Ursula. »Er und John und Frank fehlen uns.«
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