Er legt Carlyle einen Arm um die Schulter. »Sie hatten recht, Sie Hundsfott, Sie. Hundertprozentig. Schauen sie doch mal, wie die Weißhemden dreinblicken. Die haben den ganzen Tag Bittermelone gefressen!« Er grapscht nach Carlyles Hand, versucht sie zu schütteln. »Gottverdammt, es tut gut, dass die mal eins auf den Deckel gekriegt haben. Von wegen ›wohlwollende Geschenke‹! Sie sind ein guter Mann, Carlyle. Ein guter Mann.«
Er grinst triefäugig. »Ich werd reich, und das hab ich Ihnen zu verdanken. Reich!« Er packt Carlyle noch einmal an der Hand und schüttelt sie. »Guter Mann«, murmelt er. »Guter Mann.«
Lucy ruft nach ihm. »Die Rikschas sind hier, du besoffener Idiot!«
Otto stolpert davon, und mit Lucys Hilfe versucht er, in eine Rikscha zu steigen. Die Weißhemden verziehen keine Miene. Eine Frau in Offiziersuniform beobachtet von der obersten Stufe der Tempeltreppe herab das Geschehen. Auch ihr Gesicht ist völlig ausdruckslos.
Anderson blickt verstohlen zu ihr hinauf. »Was sie wohl jetzt denkt«, fragt er und macht Carlyle mit einem Kopfnicken auf die Frau aufmerksam. »Die ganzen Farang, die auf dem Gelände ihres Ministeriums herumkriechen? Was sie wohl sieht?«
Carlyle zieht an seiner Zigarette und bläst eine dicke Rauchwolke in den Himmel. »Den Anbruch eines neuen Zeitalters.«
»Zurück in die Zukunft«, murmelt Anderson.
»Wie bitte?«
»Nichts.« Anderson schüttelt den Kopf. »Etwas, das Yates immer gesagt hat. Wir haben es geschafft. Die Welt wird wieder kleiner.«
Lucy und Otto ist es endlich gelungen, in die Rikscha zu steigen. Als sie losfahren, bedankt sich Otto lauthals bei den Weißhemden dafür, dass sie ihn mit ihren Entschädigungsgeldern reich gemacht haben. Carlyle sieht Anderson an und zieht eine Augenbraue hoch, spricht seine Frage jedoch nicht aus. Anderson zieht an seiner Zigarette und überlegt, welche Möglichkeiten sich aus Carlyles Frage wohl ergeben.
»Ich möchte selbst mit Akkarat sprechen.«
Carlyle schnaubt verächtlich. »Kinder wollen alles Mögliche. «
»Das hier ist kein Spiel für Kinder.«
»Glauben Sie, Sie können ihn um den Finger wickeln? Einen braven kleinen Verwalter aus ihm machen, wie in Indien?«
Anderson mustert ihn frostig. »Eher wie in Burma.« Als Carlyle bestürzt die Augen aufreißt, lächelt er. »Keine Sorge. Nationen in die Knie zu zwingen, das ist nicht mehr unser Geschäft. Wir sind nur an einem freien Markt interessiert. Auf dieses Ziel können wir uns doch bestimmt einigen, oder? Aber ich will, dass dieses Treffen stattfindet.«
»So vorsichtig.« Carlyle lässt seine Zigarette fallen und tritt sie aus. »Ich hätte Sie für ein bisschen abenteuerlustiger gehalten.«
Anderson lacht. »Ich bin nicht hier, um Abenteuer zu erleben. Das überlasse ich gerne den Besoffenen dort drüben …« Fassungslos verstummt er.
Er hat Emiko unter den Gästen entdeckt — bei der Delegation aus Japan. Für einen kurzen Monet hat er einen Blick auf ihre Bewegungen erhascht, wie sie zwischen den Geschäftsleuten und Beamten hin und her geht, die sich um Akkarat drängen, lächeln und sich unterhalten.
»Herr im Himmel.« Carlyle holt tief Luft. »Ist das ein Aufziehmensch? Auf dem Gelände des Ministeriums?«
Anderson will etwas erwidern, aber ihm bleiben die Worte im Hals stecken.
Nein, er hat sich geirrt. Das ist nicht Emiko. Die Bewegungen sind dieselben, aber das Mädchen ist eine andere. Sie trägt teure Kleider und eine goldene Halskette. Aber sie sieht Emiko zum Verwechseln ähnlich. Sie hebt mit einer abgehackten Bewegung die Hand und schiebt sich eine seidenschwarze Locke hinters Ohr. Ähnlich, aber nicht identisch.
Andersons Herz beginnt wieder zu schlagen.
Das Aufziehmädchen hört sich an, was Akkarat sagt, und lächelt liebenswürdig. Sie dreht sich um und stellt ihm einen Mann vor, den Anderson von den Bildern des Geheimdienstes kennt: ein führender Manager von Mishimoto. Ihr Patron sagt etwas zu ihr; sie verneigt sich kurz vor ihm und eilt zu den Rikschas hinüber, auf sonderbare Weise anmutig.
Wie sehr sie Emiko gleicht! Wie überlegt und elegant sie einen Fuß vor den anderen setzt! Alles an ihr erinnert ihn an das verzweifelte Aufziehmädchen, das er kennt. Er muss schlucken, wenn er daran denkt, wie sie, klein und allein, in seinem Bett lag. Und ihn nach Informationen über die Dörfer der Aufziehmenschen ausfragte. Wie ist es dort? Wer lebt dort? Haben sie da wirklich keinen Patron? Wie verzweifelt sehnt sie sich doch nach dem geringsten Hoffnungsschimmer! Und wie sehr sie sich doch von dem eleganten Aufziehmädchen unterscheidet, die sich selbstsicher zwischen den Weißhemden und den Beamten bewegt.
»Ich glaube nicht, dass die in den Tempel hineindurfte«, sagt Anderson schließlich. »Die Weißhemden haben sie sicherlich draußen warten lassen.«
»Trotzdem, die kochen doch bestimmt vor Wut.« Carlyle legt den Kopf schräg und blickt zu der japanischen Delegation hinüber. »Wussten Sie, dass Raleigh auch so ein Spielzeug hat? Er stellt sie in den Hinterräumen seines Clubs zur Schau.«
Anderson räuspert sich. »Ach? Das ist mir neu.«
»Aber ja. Die fickt mit allem und jedem. Sollten sie sich mal ansehen. Wirklich grotesk.« Carlyle lacht leise. »Erstaunlich. Fast könnte man meinen, der Beschützer der Königin hätte sich in sie vergafft.«
Der Somdet Chaopraya starrt das Aufziehmädchen mit weit aufgerissenen Augen an, wie eine Kuh, der man einen Schlag auf den Kopf versetzt hat, bevor sie geschlachtet wird.
Anderson runzelt die Stirn — das schockiert sogar ihn. »Etwas Derartiges kann er sich nicht erlauben. Nicht mit einem Aufziehmenschen.«
»Wer weiß? Sein Ruf ist nicht unbedingt der beste. Er soll ein recht ausschweifendes Leben führen, habe ich mir sagen lassen. Als der alte König noch am Leben war, hat er sich zusammengerissen. Aber jetzt …« Carlyle verstummt. Mit einer Kopfbewegung deutet er zu dem Aufziehmädchen hinüber. »Es würde mich nicht wundern, wenn die Japaner ihm in Bälde ein Geschenk machen, als Zeichen ihres guten Willens. Niemand widersetzt sich dem Somdet Chaopraya.«
»Also ist auch er bestechlich.«
»Natürlich. Aber der Somdet Chaopraya wäre es wert. Ich habe gehört, dass er fast überall im Palast das Sagen hat. Seine Macht kennt kaum noch Grenzen. Und es würde bestimmt nichts schaden, sich mit ihm gutzustellen — der nächste Putsch kommt bestimmt.« Carlyle beißt sich auf die Unterlippe. »Alle bemühen sich, Ruhe zu bewahren, aber unter der Oberfläche kocht es. Pracha und Akkarat können so nicht weitermachen. Sie liegen schon seit dem Putsch am 12. Dezember miteinander im Clinch. Wenn wir auf der richtigen Seite Druck ausüben, können wir mitentscheiden, wer schließlich die Oberhand gewinnt.«
»Klingt teuer.«
»Nicht für Ihre Auftraggeber. Ein wenig Gold hier, ein wenig Jade da. Etwas Opium.« Er senkt die Stimme. »Nach Ihren Maßstäben wird es vielleicht sogar günstig.«
»Hören Sie auf, mich überzeugen zu wollen. Was ist jetzt mit dem Treffen mit Akkarat — klappt das oder nicht?«
Carlyle klopft Anderson auf den Rücken und lacht. »Himmel, ich liebe es, mit Farang Geschäfte zu machen. Sie sagen wenigstens, was sie wollen. Keine Sorge. Ich habe bereits alles arrangiert.« Und damit schreitet er zu der japanischen Delegation zurück, um ein paar Worte mit Akkarat zu wechseln. Schließlich wirft Akkarat Anderson einen abschätzenden Blick zu. Anderson verneigt sich tief. Akkarat nickt Anderson nur kurz zu, wie es sich für einen Mann seines Ranges geziemt.
Vor den Toren des Umweltministeriums will Anderson gerade nach Lao Gu rufen, damit dieser ihn zur Fabrik zurückfährt, als rechts und links von ihm wie aus dem Nichts zwei Thai auftauchen.
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