Raleigh ist eine Kämpfernatur. Du auch?
Sie rührt mit ihren kurzen RedStar-Bambusessstäbchen in den Nudeln. Wie wäre es, niemandem mehr dienen zu müssen? Würde sie das Wagnis auf sich nehmen? Bei der Vorstellung wird ihr ganz schummrig. Was würde sie ohne einen Patron überhaupt tun? Eine Bäuerin werden? Vielleicht in den Bergen Opium anbauen? Eine silberne Pfeife rauchen und ihre Zähne schwärzen, wie es, Gerüchten zufolge, einige der seltsamen Damen aus den Bergstämmen tun? Sie lacht in sich hinein. Kann sie sich das überhaupt vorstellen?
Sie ist so sehr in Gedanken versunken, dass es ihr fast entgangen wäre. Nur pures Glück — die Bewegung eines Mannes am Tisch gegenüber, sein bestürzter Blick und wie er den Kopf senkt und sich ganz auf sein Essen konzentriert — rettet sie. Sie erstarrt.
Mit einem Mal ist es auf dem Nachtmarkt ganz still geworden.
Und dann, wie hungrige Gespenster, tauchen die Männer in Weiß hinter ihr auf und reden in ihrem raschen Singsang mit der Frau, die am Wok steht. Die Frau beeilt sich, sie unterwürfig zu bedienen. Emiko zittert am ganzen Körper, die Nudeln auf halbem Wege zwischen Schüssel und Mund, ihr Gewicht plötzlich zu groß für ihre Arme. Sie möchte die Essstäbchen beiseitelegen, doch sie kann nichts tun. Wenn sie sich bewegt, verrät sie sich, und so bleibt sie reglos sitzen, während die Weißhemden auf ihr Essen warten und sich unterhalten.
»… endlich den Bogen überspannt. Ich hab gehört, dass Bhirombhakdi durch die Büros gerannt ist und herumgeschrien hat, er würde ihn einen Kopf kürzer machen. ›Jaidee ist zu weit gegangen, das werde ich ihm heimzahlen! ‹«
»Nach der Razzia hat er hat jedem Einzelnen seiner Leute 5000 Baht gegeben.«
»Das nützt ihnen einen Scheißdreck, nachdem er jetzt degradiert worden ist.«
»Trotzdem, 5000 Baht! Kein Wunder, dass Bhirombhakdi Gift und Galle gespuckt hat. Er muss eine halbe Million verloren haben.«
»Und Jaidee kam einfach wie ein Megodont hereingestürmt. Der Alte hat ihn bestimmt für den Bullen Torapee gehalten, der in die Fußstapfen seines Vaters treten wollte. Und der es auf ihn abgesehen hatte.«
»Damit ist es jetzt vorbei.«
Als sie sich an ihr vorbeidrängen, läuft es Emiko kalt den Rücken hinunter. Das ist das Ende. Sie wird die Essstäbchen fallen lassen, und sie werden das Aufziehmädchen bemerken, das ihnen in der Menge bisher nicht aufgefallen ist, obwohl sie in ihrer selbstbewussten Männlichkeit fast mit ihr zusammenstoßen, obwohl die Hand eines der Weißhemden sie im Nacken berührt. Plötzlich wird sie nicht mehr unsichtbar sein. Sie wird vor ihnen stehen, unverkennbar, ein Neuer Mensch mit abgelaufenen Papieren und Importlizenzen, und sie werden sie kompostieren, und sie wird so schnell recycelt werden wie Dung oder Zellulose, ihre abgehackten Bewegungen werden sie verraten, als hätte ihr jemand die Exkremente eines Glühwürmchens auf die Stirn geschmiert.
»Wie er sich vor Akkarat auf dem Boden gewälzt hat — das hätte er nicht tun sollen. Dabei haben wir alle das Gesicht verloren.«
Eine Weile herrscht Stille. Dann sagt einer von ihnen: »Tantchen, mir scheint, dein Methan hat die falsche Farbe.«
Die Frau beißt sich auf die Unterlippe. Das Lächeln ihrer Tochter spiegelt ihre Unsicherheit wider. »Wir haben dem Ministerium letzte Woche ein Geschenk gemacht«, sagt sie.
Der Mann, der Emiko im Nacken berührt, ergreift das Wort, während er sie ganz beiläufig streichelt. »Dann sind wir wohl falsch informiert worden.«
Das Lächeln der Frau wirkt sichtlich gezwungen. »Vielleicht ist mein Gedächtnis auch schlecht.«
»Nun, ich kann gerne in deiner Akte nachschauen.«
»Das ist nicht nötig. Ich werde meine Tochter sofort losschicken. Und warum nehmen Sie sich nicht diese beiden Fische? Sie werden nicht gut genug bezahlt, um ordentlich zu essen.« Sie nimmt zwei große Tilapia vom Grill und hält sie den Männern hin.
»Das ist sehr freundlich von dir, Tantchen. Ich habe Hunger. « Mit dem in Bananenblätter gewickelten Plaa unter dem Arm wenden sich die Weißhemden ab und setzen ihren Weg über den Nachtmarkt fort, ohne auf den Schrecken zu achten, den sie dabei verbreiten.
Kaum sind sie fort, verschwindet das Lächeln der Frau. Sie dreht sich zu ihrer Tochter um und drückt ihr ein Bündel Geldscheine in die Hand. »Geh zur Polizei hinüber, und achte darauf, dass du das Geld Sergeant Siriporn gibst, und keinem anderen. Ich möchte nicht, dass die beiden wiederkommen. «
Die Stelle, wo der Uniformierte sie berührt hat, brennt ihr im Nacken. Das war knapp. Viel zu knapp. Seltsam, wie sie manchmal vergisst, dass sie auf der Flucht ist. Wie sie sich manchmal einredet, dass sie ein Mensch ist. Emiko schaufelt sich den Rest der Nudeln in den Mund. Sie darf es nicht länger aufschieben. Sie muss ganz offen mit Raleigh reden.
»Ich möchte fort von hier.«
Raleigh dreht sich auf seinem Barhocker um und mustert sie erstaunt. »Tatsächlich?« Er lächelt. »Emiko, hast du einen neuen Patron?«
Um sie herum plaudern und lachen die anderen Mädchen, die eben erst eintreffen, verneigen sich vor dem Geisterhaus, und manche legen sogar Opfergaben hinein, in der Hoffnung auf einen liebenswürdigen Kunden oder einen reichen Patron.
Emiko schüttelt den Kopf. »Keinen neuen Patron. Ich möchte nach Norden gehen. Zu den Dörfern, in denen die Neuen Menschen leben.«
»Wer hat dir denn davon erzählt?«
»Es gibt sie also?« An seinem Gesichtsausdruck erkennt sie, dass sie existieren. Ihr Herz fängt an zu hämmern. Sie sind nicht nur ein Gerücht. »Es gibt sie also!«, wiederholt sie mit Nachdruck.
Er mustert sie eingehend. »Vielleicht.« Er bedeutet Daeng, dem Bartender, ihm noch einen Drink zu bringen. »Aber ich muss dich warnen — das Leben im Dschungel ist nicht einfach. Wenn es zu einer Missernte kommt, fresst ihr dort Insekten. Und zu jagen, gibt es auch nicht viel, nachdem die Rostwelke und der japanische Rüsselkäfer den größten Teil des Futters vernichtet haben.« Er zuckt mit den Achseln. »Ein paar Vögel.« Er wendet sich wieder Emiko zu. »Du solltest in der Nähe des Wassers bleiben. Da draußen überhitzt du nur. Glaub mir. Das Leben dort ist verdammt hart. Wenn du wirklich von hier weg willst, solltest du dir einen neuen Patron suchen.«
»Die Weißhemden hätten mich heute fast erwischt. Wenn ich hierbleibe, sterbe ich.«
»Ich bezahle sie dafür, dass sie dich in Ruhe lassen.«
»Nein. Ich war auf dem Nachtmarkt …«
»Was zum Teufel hattest du dort verloren? Wenn du was essen willst, dann komm gefälligst hierher!«, faucht Raleigh zornig.
»Es tut mir leid. Ich muss fort. Raleigh-san, Sie haben Beziehungen. Sie kennen Leute, die mir helfen können, eine Reiseerlaubnis zu bekommen. Damit ich an den Kontrollen durchgelassen werde.«
Raleigh nimmt seinen Drink entgegen und nippt daran. Der Alte gleicht einer Krähe — wie der Gestalt gewordene Tod sitzt er auf seinem Barhocker und wacht darüber, wie seine Huren eintreffen, eine nach der anderen. Dann betrachtet er Emiko mit kaum verhülltem Ekel — als wäre sie ein Stück Hundescheiße, die an seinem Schuh klebt. Er trinkt noch einen Schluck. »Bis nach Norden ist es ein weiter Weg. Verdammt teuer, das.«
»Ich kann arbeiten.«
Darauf reagiert Raleigh nicht. Der Barkeeper ist anscheinend damit fertig, die Theke auf Hochglanz zu polieren. Er und sein Assistent holen eine Truhe mit Eis von dem Luxushersteller Jai Yem, Nam Yen hervor. Kühle Herzen, kühles Wasser.
Raleigh hält ihm sein Glas hin, und Daeng lässt klimpernd zwei Eiswürfel hineinfallen. Kaum haben sie die isolierte Truhe verlassen, schmelzen sie in der Hitze. Emiko schaut zu, wie die Eiswürfel in der Hitze immer kleiner werden. Daeng gießt Wasser darüber. Emiko hat das Gefühl, gleich zu verglühen. Die offenen Fenster des Clubs lassen so gut wie nichts von der abendlichen Brise herein, und zu dieser frühen Stunde ist es in dem Gebäude noch immer drückend heiß. Von den Yellow Cards, die die Ventilatoren betreiben, ist noch keiner eingetroffen. Wände und Boden des Clubs strahlen eine Hitze ab, die geradezu greifbar ist. Raleigh trinkt einen Schluck von seinem kühlen Wasser.
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