“Absolut!”, bekräftigte Rich eifrig.
“Haben Sie schon mit jemandem darüber gesprochen?”
“Wem hätte ich es denn sagen sollen?”
“Keine Ahnung”, antwortete Venkat. “Ihren Freunden vielleicht?”
“Ich habe keine Freunde.”
“Oh, na gut. Halten Sie das bitte unter Verschluss.”
“Ich habe meinen Schreibtischschlüssel verloren.”
“Das ist im übertragenen Sinne gemeint.”
“Wirklich?”, sagte Rich. “Was für eine dumme Redewendung.”
“Rich, Sie sind gerade schwierig.”
“Ah. Danke.”
Vogel:
Es nervt, Ihr Ersatzmann zu sein.
Vermutlich glaubt die NASA, Botanik und Chemie seien ähnlich, weil man für beides eine Schürze braucht. Jedenfalls bin ich jetzt der Ersatzchemiker.
Wissen Sie noch, wie man Sie veranlasste, einen Tag mit mir zu verbringen und mir Ihre Experimente zu erklären? Das war irgendwann während der anstrengenden Missionsvorbereitungen. Vielleicht haben Sie es längst vergessen.
Ihre Einweisung begann damit, dass Sie mir ein Bier ausgegeben haben. Zum Frühstück. Ihr Deutschen seid der Wahnsinn.
Wie auch immer, da ich jetzt genug Zeit habe, hat mir die NASA einen Haufen Arbeit aufs Auge gedrückt. Ihre ganzen chemischen Experimente stehen auf der Liste. Also darf ich nun diese stinklangweiligen Versuche mit Reagenzgläsern, Erde und pH-Messungen und … pah!
Mein Leben ist jetzt ein verzweifelter Kampf ums Überleben, der gelegentlich von Titrationen unterbrochen wird.
Ehrlich gesagt, halte ich Sie für einen Superschurken. Sie sind Chemiker, Sie haben einen deutschen Akzent, und Sie hatten einen Stützpunkt auf dem Mars … welche Beweise braucht man da noch?
“Was, zum Teufel, ist das Elrond-Projekt?”, fragte Annie.
“Irgendeinen Namen musste es ja haben”, erklärte Venkat.
“Und wie sind Sie ausgerechnet auf ›Elrond‹ gekommen?”
“Weil es ein Geheimtreffen ist”, half Mitch aus. “In der E-Mail hieß es, ich dürfte nicht einmal meinen Stellvertreter einweihen.”
“Ich erläutere Ihnen alles, sobald Teddy da ist”, versprach Venkat.
“Warum steht ›Elrond‹ für ein Geheimtreffen?”, fragte Annie.
“Ich nehme an, weil wir eine weitreichende Entscheidung treffen?”, warf Bruce Ng ein.
“Genau”, bestätigte Venkat.
“Woher wissen Sie das?”, fragte Annie gereizt.
“Elrond”, erklärte Bruce. “Elronds Rat. Aus Herr der Ringe. Auf diesem Treffen haben sie beschlossen, den einen Ring zu zerstören.”
“Jesus”, stöhnte Annie. “Habt ihr alle auf der Highschool keinen Sex gehabt?”
“Guten Morgen”, sagte Teddy, der gerade hereinkam. Er setzte sich und legte die Hände flach auf den Tisch. “Weiß jemand, worum es bei dieser Sitzung geht?”
“Moment mal”, unterbrach Mitch. “Weiß nicht einmal Teddy Bescheid?”
Venkat holte tief Luft. “Rich Purnell, einer unserer Astrodynamiker, hat einen Weg gefunden, wie wir die Hermes zurück zum Mars schießen können. Auf dem Kurs, den er berechnet hat, könnte die Hermes an Sol 549 ein Fly-by-Manöver durchführen.”
Schweigen.
“Sol 549? Wie ist das möglich?”, fragte Bruce. “Selbst Iris wäre nicht vor Sol 588 gelandet.”
“Iris war eine Trägerrakete, die ihr Ziel mit kurzem und hohem Schub direkt ansteuern sollte”, erklärte Venkat. “Die Hermes hat einen Ionenantrieb und beschleunigt ständig weiter. Außerdem ist die Hermes jetzt schon sehr schnell. Beim momentanen Kurs in Richtung Erde müssen sie den ganzen nächsten Monat abbremsen, um sich an die Geschwindigkeit der Erde anzupassen.”
Mitch rieb sich den Hinterkopf. “Mann … Sol 549. Das wären fünfunddreißig Marstage, ehe Watney der Proviant ausgeht. Sämtliche Probleme wären gelöst.”
Teddy beugte sich vor. “Erläutern Sie es uns, Venkat. Wie genau soll das ablaufen?”
“Also”, begann Venkat, “wenn sie dieses Rich-Purnell-Manöver durchführen, beschleunigen sie ab sofort, um die Geschwindigkeit zu halten und sogar noch schneller zu werden. Sie treffen die Erde nicht, sondern kommen ihr nur nahe genug, um mithilfe der Erdschwerkraft den Kurs zu ändern. Dabei nehmen sie eine Sonde mit Vorräten auf, die für die verlängerte Reisedauer reichen. Anschließend fliegen sie mit hoher Geschwindigkeit zum Mars und treffen dort an Sol 549 ein. Wie gesagt, es ist ein Fly-by-Manöver. Das wird ganz und gar keine normale Ares-Mission. Sie sind viel zu schnell, um in eine Umlaufbahn einzuschwenken. Der Schwung führt sie danach aber wieder zur Erde zurück. Zweihundertelf Tage nach dem Vorbeiflug treffen sie auf der Erde ein.”
“Was nützt uns ein Vorbeiflug?”, fragte Bruce. “Sie können Watney nicht von der Oberfläche abholen.”
“Richtig”, sagte Venkat. “Jetzt kommt der unangenehme Teil. Watney muss zum MLM von Ares 4 fahren.”
“In den Schiaparelli-Krater?” Mitch blieb der Mund offen stehen. “Das sind dreitausendzweihundert Kilometer!”
“Ganz genau sind es dreitausendzweihundertfünfunddreißig”, antwortete Venkat. “Völlig ausgeschlossen ist es nicht, denn er ist zum Landeplatz von Pathfinder und wieder zurück gefahren. Das sind mehr als tausendfünfhundert Kilometer.”
“Er ist durch eine ebene Einöde gefahren”, wandte Bruce ein. “Die Fahrt nach Schiaparelli …”
“Es soll an dieser Stelle reichen zu sagen, dass es schwierig und gefährlich wird. Aber wir haben viele kluge Wissenschaftler, die ihm helfen können, den Rover zu überlisten. Außerdem muss er Veränderungen am MRM vornehmen.”
“Was ist mit dem MRM nicht in Ordnung?”, fragte Mitch.
“Eigentlich soll es eine niedrige Umlaufbahn um den Mars erreichen”, erläuterte Venkat. “Die Hermes wird jedoch nur vorbeifliegen. Um sie zu treffen, muss das MRM das Schwerkraftfeld des Mars völlig verlassen.”
“Wie soll das gehen?”, wollte Mitch wissen.
“Wir müssen Gewicht abspecken … eine Menge Gewicht. Wenn wir uns für diesen Weg entscheiden, setze ich einen ganzen Schwarm von Mitarbeitern darauf an, die Probleme zu lösen.”
“Gehen wir mal einen Schritt zurück”, sagte Teddy. “Sie haben eine Versorgungssonde für die Hermes erwähnt. Haben wir diese Möglichkeit überhaupt?”
“Ja, dank der Taiyang Shen”, antwortete Venkat. “Wir setzen sie für ein Rendezvous in Erdnähe ein. Das ist auf jeden Fall erheblich einfacher, als eine Sonde zum Mars zu schicken.”
“Verstehe”, sagte Teddy. “Also haben wir jetzt zwei Möglichkeiten: Wir schicken Watney genügend Proviant, damit er bis Ares 4 durchhält, oder wir schicken die Hermes zurück, um ihn abzuholen. Beide Pläne erfordern die Taiyang Shen und schließen sich daher gegenseitig aus.”
“Genau”, bestätigte Venkat. “Wir müssen uns für einen Plan entscheiden.”
Alle schwiegen einen Moment und dachten darüber nach.
“Was wird die Crew der Hermes dazu sagen?”, unterbrach Annie schließlich das Schweigen. “Hätten Sie ein Problem damit …”, sie rechnete kurz nach, “ihre Mission um fünfhundertdreiunddreißig Tage zu verlängern?”
“Sie würden keine Sekunde zögern”, sagte Mitch. “Deshalb hat Venkat diese Sitzung einberufen.” Er warf Venkat einen missbilligenden Blick zu. “Wir sollen es für sie entscheiden.”
“Genau”, stimmte Venkat zu.
“Commander Lewis sollte dies entscheiden”, meinte Mitch.
“Es ist sinnlos, sie überhaupt zu fragen”, erklärte Venkat. “Wir müssen den Beschluss fassen. Es geht um Leben und Tod.”
“Sie ist die Kommandantin der Mission”, widersprach Mitch. “Entscheidungen auf Leben und Tod sind ihre Aufgabe, verdammt.”
“Immer mit der Ruhe, Mitch”, beschwichtigte Teddy.
“Zum Teufel damit”, fuhr Mitch fort. “Ihr habt die Crew ständig herausgehalten. Erst wolltet ihr ihnen nicht verraten, dass Watney überlebt hat, und jetzt verschweigt ihr ihnen, dass es eine Möglichkeit gibt, ihn zu retten.”
Читать дальше