„Es ist kalt“, erwiderte Thomas, „ich darf nicht schlafen, muß bald auf Wache … Und der Computer macht wieder mal Sperenzchen, wahrscheinlich ist ein Floh hineingeraten …“
„Weshalb nur sind wir losgezogen“, sagte Dick, „wie konnten sie eine solche Truppe in die Berge lassen!“ „Andere gab es nicht“, antwortete Marjana. „Es war niemand weiter da, der hätte gehen können. Das weißt du genausogut wie ich.“
Die Kälte breitete sich allmählich über Olegs ganzen Körper aus, doch es war keine gewöhnliche Kälte. Sie traktierte vielmehr sämtliche Sehnen, als würde sich eine Vielzahl kleiner Eiszapfen in Brust und Gliedmaßen drängeln … Er sah Thomas’ Kopf immer größer werden … „Das wär’s“, sagte Dick, „so müßte es reichen.
Schneidet’s auch nicht ein?“
„Und ob’s einschneidet.“ Oleg gab sich Mühe zu lächeln, doch seine Gesichtsmuskeln waren schon im Krampf verzerrt.
„Sag mal“, Dick wandte sich zu Marjana um, „wo ist eigentlich die Ziege?“
„Die Ziege? Heut nacht hab ich sie noch gehört.“
„Wo die Ziege ist, will ich wissen!“ Dicks Stimme war im Zorn auf Jungenart schrill geworden. „Hast du sie nicht festgebunden?“
„Doch“, antwortete Marjana, „sie muß sich losgerissen haben.“
„Verdammt, ich will wissen, wo die Ziege steckt!“ Der Unmut, der sich in Dick angestaut hatte, brauchte offenbar ein Ventil, und so kam ihm die Ziege als Verkörperung sämtlicher Mißerfolge gerade zupaß. „Sei nicht wütend, Dicki“, bat Marjana und mühte sich damit ab, Oleg in die Decken zu wickeln. „Wahrscheinlich sucht sie bloß was zu essen, sie braucht doch Nahrung.“
„Was soll sie hier schon finden! Weshalb hast du sie nicht angepflockt?“
Dick holte seine Armbrust hinterm Zeltvorhang hervor, steckte sich das Messer in den Gürtel.
„Wo willst du hin?“ fragte Marjana, obwohl sie nur zu genau wußte, was Dick vorhatte.
Dick musterte aufmerksam den Schnee ringsum, suchte nach den Spuren des Tieres.
„Sie kommt bestimmt zurück“, sagte Marjana.
„Und ob sie zurückkommt“, bestätigte Dick, „als Kadaver nämlich. Mir reicht’s. Ich hab keine Lust, wegen deiner Albernheiten zu krepieren.“
Dick wurde größer und größer, bald würde sein Kopf gegen den Himmel stoßen, doch dann zerschellte er gewiß an den Wolken, die aus Glas und sehr hart waren … Oleg kniff fest die Augen zusammen und öffnete sie wieder, bemüht, die Visionen zu vertreiben. Thomas saß auf der Decke und schwankte hin und her, als singe er lautlos ein Lied.
„Marjaschka, mach etwas Wasser heiß …“ Oleg glaubte, daß seine Stimme laut und fest klang, in Wirklichkeit flüsterte er fast tonlos. „Für Thomas … ihm geht’s nicht gut …“ Marjana begriff. „Aber natürlich, Oleshka, gleich.“
Dabei wandte sie keinen Blick von Dick.
„Hab ich mir’s doch gedacht“, schimpfte Dick, „sie ist zurück ins Tal. In der Nacht kann sie gut gern zwanzig Kilometer geschafft haben.“
„Bleib hier, Dick“, sagte Thomas plötzlich laut und deutlich artikuliert. „Marjaschka wird die Ziege selber finden. Du tötest sie doch bloß.“
„Worauf du dich verlassen kannst“, erwiderte Dick, „und ob du dich darauf verlassen kannst. Ich hab genug von dem Unsinn.“
„Ich gehe selber, ich finde sie“, Marjana hatte Olegs Bitte nach heißem Wasser vergessen. „Du darfst jetzt nicht weg von hier, Dick. Thomas ist krank, und Oleg braucht gleichfalls Hilfe.“
„Den beiden wird schon nichts zustoßen.“ Dick fuhr sich mit den Fingern zornig durch die schwarze Mähne, schüttelte den Kopf. „Du schaffst es auch allein, Marjana.“
Dann ging er mit leichten, schnellen Schritten, ohne sich nochmals umzudrehen, immer der Tierfährte nach, hinunter ins Tal, denselben Weg, den sie gestern gekommen waren.
„Mir wär’s lieber, du würdest gehn“, sagte Thomas zu Marjana, „du bringst sie wenigstens zurück. Dick aber tötet sie.“
Oleg, der sein Denkvermögen noch nicht eingebüßt hatte, obwohl die Welt um ihn her ständig Form und Proportionen wechselte, immer verschwommener und trügerischer wurde, sagte: „Man kann Dick ja verstehen … Wir haben in der Tat kein Glück.“
„Dabei ist es gar nicht mehr weit“, sagte Thomas, „ich bin ganz sicher. Wir kommen gut voran, morgen könnten wir dort sein. Bis morgen kämen wir auch ohne Fleisch hin, meint ihr nicht? Hinter dem Paß aber gibt es Nahrung, das verspreche ich euch, Freunde. Dick, ich verspreche es!“
Dick hob den Arm, gab zu verstehen, daß er Thomas’ Worte gehört hatte — die Geräusche hallten weit über den Schneehang —, verlangsamte aber den Schritt nicht.
„Wir müssen die Ziege unbedingt fangen“, sagte Thomas, erneut an Marjana gewandt, „wir brauchen sie noch. Wir dürfen sie nicht töten, darin liegt keinerlei Sinn … Ach, wie heiß mir ist … ich verbrenne … Weshalb tut mir die Leber so weh … Das ist unfair, wir sind doch schon so nahe am Ziel …“
„Er wird sie töten“, sagte Marjana, „er wird sie unweigerlich töten. Di—i–ick!“
Marjana wandte sich Thomas und Oleg zu: „Was soll ich bloß tun, sagt es mir, ihr seid doch klug, wißt immer Rat! Wie kann ich ihn zurückhalten?“
„Ich kann ihn nicht einholen“, sagte Thomas, „für ihn bin ich leider keine Autorität mehr.“ „Gleich …“ murmelte Oleg, „du mußt mich bloß losbinden … Vielleicht schaff ich’s noch bis zum Anfall, vielleicht schaff ich’s …“
Marjana winkte bloß ab, machte zwei Schritte hinter Dick her, kehrte wieder um, sah die beiden an. „Ich kann euch doch unmöglich allein lassen.“
„So lauf endlich!“ schrie Thomas plötzlich. „Lauf so schnell du kannst!“
„Meinen Sie wirklich?“
„Lauf los“, sagte Oleg.
„Aber ihr beide allein, das geht doch nicht … Wenn plötzlich ein Tier kommt …“
„Du sollst laufen!“ wiederholte Oleg. „Und zurückkommen.“
Da rannte das Mädchen leichtfüßig, kaum den Schnee berührend, den Abhang hinunter; Dick war bereits verschwunden.
„Sie tut mir leid, die Kleine“, sagte Thomas, „sie hängt so an dem Tier.“
„Mir tut sie auch leid“, sagte Oleg. „Seltsam, Sie besitzen überhaupt keine Form mehr, sind mal dick und dann wieder ganz dünn wie ein Streichholz.“
„Ist schon klar“, erwiderte Thomas. „Entspann dich, so gut es geht. Eigenartigerweise wirkt dieses Gift zuerst aufs Sehvermögen. Ich erinnere mich noch, denn mich hat dreimal so ein Floh gebissen. Aber hab keine Angst, es bleiben keinerlei Folgen zurück, wirklich, du kannst beruhigt sein.“
„Ich glaub’s ja, trotzdem ist es furchtbar, sich zu verlieren, verstehen Sie? Eben noch bin ich es, und kurze Zeit später schon nicht mehr.“
Oleg zog es in die Tiefe, in blaues Wasser, und es war unsäglich schwer, sich an der Oberfläche zu halten, denn die Beine waren von Schlingpflanzen umwuchert, und er mußte sie losreißen, befrein, sonst würde er unweigerlich ertrinken.
Die Decke, die Marjana über Oleg gebreitet hatte, flog beiseite. Oleg, gegen die Wand gelehnt, konnte sich nicht mehr halten und fiel in den Schnee. Seine Augen waren geschlossen, die Lippen bewegten sich, das Gesicht wurde vor Anspannung und in dem Bestreben, die Fesseln zu sprengen, dunkel. Thomas wollte sich erheben, um ihm zu helfen, ihn zuzudecken oder wenigstens seinen Kopf auf die Knie zu nehmen. Es war in solchen Fällen immer günstig, den Kopf des Kranken zu halten. Thomas bemühte sich aufzustehn, doch die Beine versagten ihm den Dienst.
Oleg spannte den Rücken und schnellte buchstäblich in die Luft, er stieß sich mit den Fäusten vom Boden ab und begann den Abhang hinunterzurollen. Er überschlug sich mehrmals, prallte gegen einen aus dem Schnee ragenden Felsblock und blieb reglos liegen. Seine Jacke war zerrissen, der Schnee auf seiner nackten Brust aber taute nicht.
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