„Es war mein Fleisch“, sagte Marjana mit trockenen, bösen Augen, „ich will nicht essen!“ „Du willst“, erwiderte Dick. „Wir haben für morgen nur noch zwei Fleischstücken pro Mann, nur zwei! Dabei müssen wir ständig bergauf. Ach, weshalb hab ich mich bloß mit euch eingelassen!“
Er griff plötzlich nach einem Messer und warf es, ohne sich umzudrehen, voller Wucht nach der Ziege. Das Messer, ein grünliches Fellbüschel absäbelnd, prallte klirrend gegen die Felswand. Dick sprang auf, die Ziege machte einen Satz zur Seite, wobei sich das Seil spannte.
Dick hob das Messer auf, seine Spitze war abgebrochen.
„Idioten“, rief er, „warum will hier denn niemand was begreifen! Wieso begreift keiner, daß wir nie mehr zurückkehren!“ Dabei sah er weder Marjana an, die zu weinen begonnen hatte, noch Oleg, dem nichts Besseres einfiel, als dem Mädchen sein bißchen Fleisch zuzustecken, als wär sie ein kleines Kind. Marjana stieß seine Hand fort, Dick aber breitete hastig seine Decke aus, legte sich der Länge lang drauf und schloß die Augen. Er schlief ein oder tat zumindest so.
Thomas hustete welk, als hätte er nicht einmal mehr dazu die Kraft.
Oleg erhob sich und wickelte ihn in die Zeltplane. Dann legten er und Marjana sich rechts und links von ihm nieder, um ihn zu wärmen. Es schneite. Der Schnee war nicht kalt, bedeckte sie mit einer dicken Schicht. Erst als es finster wurde, kam die Ziege und gesellte sich zu ihnen — sie schien zu verstehen, daß es für alle zusammen wärmer war. Oleg schlief auch in dieser Nacht kaum, wenigstens glaubte er das. Ihm war, als würde ein Riesenwesen in ihrer Nähe vorbeigehen und das bläuliche Morgenlicht verdunkeln. Dann wurde es schlagartig kälter — die Ziege war aufgestanden, um sich Nahrung zu suchen. Oleg aber wurde von einem Floh gebissen; es war unerklärlich, wo er herkam. Vielleicht hatte er in der Kleidung gesteckt, vielleicht auch im Ziegenfell.
Der Schneefloh hatte einen spezifischen, unverwechselbaren Biß. Nein, keiner konnte ihn verwechseln, und sie hatten bis jetzt auch noch kein Mittel gefunden, sich vor diesen Flöhen zu schützen, kein Gegengift entwickeln können. Dieser Biß war hoffnungslos wie der Tod, man mochte weinen, schreien, Hilfe rufen “
niemand war in der Lage zu helfen.
Das Ganze dauerte nur wenige Stunden. Zuerst kam der Biß — ein kalter Stich, als wäre einem ein Eiszapfen unter die Haut gejagt worden, und dieses eisige Brennen war so scharf, daß man sofort erwachte, vor Schreck und Hilflosigkeit erstarrte. Danach war erstmal nichts, eine ganze Stunde lang. Dann jedoch begann der Mensch allmählich den Verstand einzubüßen, egal, ob es sich um einen klugen oder dummen, um Kinder oder Greise handelte. Eine halbe Stunde oder eine Stunde lang wurde man von Alpträumen gefangengehalten. Der Alte sagte immer, wenn er ein Mikroskop hätte, würde er dieser Krankheit mit Leichtigkeit zu Leibe rücken, würde herausfinden, welcher Teil des Gehirns befallen sei und wie der Erreger auf das Nervensystem wirkte … Der Gestochene jedenfalls fing zu toben an, wurde zum Wilden, der niemanden erkannte, bereit, seinen Nächsten zu erschlagen, ohne sich später daran zu erinnern.
Als es in der Siedlung den ersten Krankheitsfall dieser Art gegeben hatte, wußte niemand, was geschehen war.
Und es waren noch einige schlimme Vorfälle nötig gewesen, damit man begriff, daß mit diesem Flohfieber, diesen Anfällen nicht gekämpft werden konnte. Statt dessen mußte der Kranke gefesselt und isoliert werden.
Danach galt es abzuwarten, bis der Tobsuchtsanfall vorüber und der Betreffende wieder bei Bewußtsein war.
Das war alles. Später einmal, wenn man gelernt haben würde, gegen das Fieber anzukommen, wäre das vielleicht anders, jetzt aber gab es nur diesen Ausweg. Und wenn es geschah, daß jemand im Dorf vom Schneefloh gebissen wurde, einem winzigen, unbedeutenden Wesen, eilte der Betroffene ganz von selbst zu den andern und bat darum, gefesselt zu werden. In diesem Wunsch aber lag etwas Grauenvolles. Man war noch bei Gesundheit, bei klarem Verstand, und begriff schon, wie ein zum Tode Verurteilter, daß man in wenigen Minuten kein Mensch mehr sein, sondern zum bösartigen, unverständigen Tier würde. Es gab niemanden in der Siedlung, der so etwas nicht schon mit angesehen hatte. Jeder empfand Scham bei dem Gedanken, daß ihm das Gleiche widerfahren könnte. Und jeder hatte Angst vor diesen Alpträumen und Gesichtern, die einen während solcher Anfälle heimsuchten. Deshalb auch war Oleg, als er diesen charakteristischen Stich spürte, sofort hellwach und weckte die anderen.
„Dick“, sagte er schuldbewußt, „hast du einen Strick mit?“
„Was ist?“ Dick sprang auf, begann im Finstern den Platz um sich her abzutasten. Die Morgendämmerung zog gerade erst herauf. Thomas ächzte im Schlaf, erwachte aber nicht.
„Ach, was für ein Unglück!“ lamentierte Marjana.
„Dich hat wirklich ein Floh gebissen?!“
„Ja, eben erst.“
Dick gähnte. „Dann hättest du dir Zeit lassen können.
Du hast noch mindestens eine Stunde.“
„Es kann schon eher einsetzen“, erwiderte Oleg. „So ein elendes Pech.“
„Das hat uns wirklich noch gefehlt“, stimmte Dick zu.
„Na, dann mal raus mit dir in die Kälte.“
„Ich deck dich nachher zu und bleib bei dir sitzen“, versprach Marjana.
„Verdammt“, sagte Dick und suchte nach dem Seil, „da können wir ja wieder nicht rechtzeitig los.“
„Schließlich geht es vorbei“, erwiderte Oleg. „Nach so einem Anfall muß man mindesten zwei Stunden liegenbleiben“, sagte Dick, „das weiß ich von mir.“
Er zürnte Oleg nicht, zürnte mehr dem Schicksal, das ihnen so viele Mißlichkeiten in den Weg legte.
Die Empfindung von Kälte in der Hüfte, wohin der Floh gestochen hatte, verschwand nicht. Oleg spürte den Biß unaufhörlich und stellte sich vor, wie sein Blut, durchsetzt von einem winzigen Tropfen Gift, pulsierend zum Gehirn strömte, um es sich zu unterwerfen und ihn um den Verstand zu bringen.
Dick überprüfte in aller Ruhe den Strick, Marjana machte Feuer.
Die Dämmerung war blau und völlig anders als im Tal, wo es den ganzen Tag über grau blieb.
„Na dann laß dich mal fesseln“, sagte Dick.
„Aber paß auf, daß er sich nicht irgendwas bricht“, sagte Marjana. „Armer Oleshka!“
„Ich mach das nicht zum ersten Mal“, erwiderte Dick.
„Diese Flöhe sind ein richtiges Elend. Gib dich ganz locker, Oleg, dann wird’s leichter. Und denk an was andres.“
Zunächst band er Oleg die Arme auf den Rücken, danach umwickelte er Brust und Beine. Die Stricke schnürten sich fest ins Fleisch, doch Oleg erduldete es, wußte er doch, daß einem während des Anfalls wie bei einem Geisteskranken zusätzliche Kräfte zuströmten und man bärenstark wurde. Hatte man jetzt mit ihm Mitleid, würde es nachher für alle viel schwerer werden.
Thomas stieß einen Seufzer aus. Er steckte den Kopf mit dem scheckigen, strubbeligen Haar zum Zelt heraus, blinzelte, konnte sich aber nicht besinnen, wo er war. Seine Augen waren blutunterlaufen, das Gesicht rot und gedunsen. Schließlich erkannte er Dick, der dabei war, Oleg zu fesseln. Oleg lächelte verlegen — es war ihm peinlich, den anderen Ungelegenheiten zu bereiten, unangenehm auch die Erkenntnis, daß das eigene Ich bald verschwinden würde. Der Alte hatte erzählt, daß im Mittelalter epileptische und geistesgestörte Frauen als Hexen bezeichnet und sogar auf Scheiterhaufen verbrannt wurden, wenn sie auf solche Weise vom Teufel besessen waren.
„Flöhe“ sagte Thomas, „überall Flöhe … Überall Ungeziefer …“
„Schlafen Sie noch ein bißchen“, sagte Oleg, „es dauert eine Weile, bis ich wieder bei mir bin, das wissen Sie ja.
Ruhen Sie sich aus.“
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