Norton war wie alle Kommandanten eines Raumschiffs ein vorsichtiger Mann. Er hatte sich die Nordansicht Ramas lange und eingehend angesehen, um den Landepunkt zu wählen. Nach sorgfältigen Überlegungen hatte er beschlossen, den naheliegenden Punkt zu vermeiden: das genaue Zentrum auf der Achse.
Auf der Polachse lag nämlich ein klar abgegrenzter kreisförmiger Bezirk von hundert Metern Durchmesser, und Norton hatte den starken Verdacht, daß dies die äußere Klappe einer riesigen Ausstiegsluke sein müsse. Die Geschöpfe, die diese Hohlwelt gebaut hatten, mußten über Möglichkeiten verfügt haben, ihre Raumschiffe nach innen zu bringen. Und dies war logischerweise der beste Platz für einen Hauptzugang. Darum hielt Norton es für unklug, mit seinem Raumschiff die Vordertür zu blockieren.
Doch aus dieser Entscheidung ergaben sich andere Probleme. Wenn die Endeavour auch nur ein paar Meter von der Achse entfernt aufsetzte, würde die hohe Umdrehungsgeschwindigkeit Ramas sie vom Pol nach außen rutschen lassen. Zunächst würde die Zentrifugalkraft sehr schwach sein, doch sie würde stetig und unerbittlich zunehmen. Der Gedanke, daß sein Schiff über die Polebene schlittern könnte und von Minute zu Minute schneller werden würde, bis es schließlich mit ein paar tausend Stundenkilometern am Rand der Scheibe in den Raum hinausgeschleudert würde, gefiel Norton keineswegs.
Es bestand die vage Möglichkeit, daß das winzige Gravitationsfeld Ramas — etwa ein Tausendstel der Schwerkraft auf der Erde — dies verhindern würde. Dadurch würde die Endeavour mit einer Kraft von mehreren Tonnen gegen die Fläche gepreßt werden, und bei einer relativ rauhen Oberflächenstruktur würde das Schiff in Polnähe bleiben. Aber Commander Norton beabsichtigte keineswegs, eine unbekannte Reibungskraft gegen eine vollkommen sichere Zentrifugalkraft in die Waagschalen zu werfen.
Glücklicherweise hatten die Konstrukteure Ramas die Antwort bereits geliefert. In gleichmäßigen Abständen um die Polachse waren drei niedrige bunkerförmige Gebilde von etwa zehn Metern Durchmesser angeordnet. Wenn die Endeavour zwischen zweien davon landete, würde sie durch die Zentrifugalkraft gegen sie getrieben und von ihnen abgeblockt werden, wie ein Schiff, das von den andrängenden Wellen am Kai festgehalten wird.
„Kontakt in fünfzehn Sekunden“, sagte Joe.
Während Commander Norton sich auf die Kontrollsteuerung konzentrierte (die er, wie er hoffte, nicht würde bedienen müssen), kam ihm blitzartig zum Bewußtsein, welche Bedeutung dieser Augenblick hatte. Es handelte sich zweifellos um das wichtigste Landemanöver seit der Mondlandung vor anderthalb Jahrhunderten.
Die grauen bunkerähnlichen Gebilde glitten langsam das Bullauge hinauf. Es kam das letzte Zischen einer Reaktionsdüse, dann ein kaum spürbarer Stoß.
In den vergangenen Wochen hatte Commander Norton sich oftmals gefragt, was er in diesem Moment sagen würde. Doch nun, da er eingetreten war, wählte die Geschichte die Worte für ihn, und er sagte halb automatisch (und ohne sich wirklich bewußt zu sein, daß er auf ein historisches Ergebnis der Vergangenheit anspielte): „Rama-Basis. Endeavour ist gelandet.“
Noch vor einem Monat hätte er es nicht für möglich gehalten. Das Raumschiff war mit einem Routineauftrag unterwegs gewesen und hatte Warnungsbaken für Asteroiden überprüft und ausgewechselt, als der Befehl gekommen war. Die Endeavour war das einzige Raumschiff im Sonnensystem, das von der Position her überhaupt dafür in Frage kam, den Eindringling abzufangen, ehe er um die Sonne herumflitzte und wieder zu den Sternen hinausschoß.
Aber trotz der günstigen Position war es notwendig gewesen, drei anderen Schiffen der solaren Wachpatrouille den Treibstoff abzunehmen. Sie trieben jetzt hilflos im Raum, bis sie von Tankern wieder Nachschub erhalten würden. Norton hatte den Verdacht, daß es lange dauern würde, bis die Käptn der Calypso, der Beagle und der Challenger wieder mit ihm reden würden.
Trotz des zusätzlichen Treibstoffs war es eine lange und schwierige Verfolgungsjagd gewesen: Rama befand sich bereits in der Umlaufbahn der Venus, als die Endeavour den Planeten einholte. Kein anderes Raumschiff hatte jemals etwas Derartiges unternommen. Es war ein außerordentliches Privileg, und in den kommenden Wochen durfte kein einziger Augenblick verschwendet werden. Tausende von Wissenschaftlern auf der Erde hätten mit Freuden ihre Seele verpfändet, wenn ihnen diese Möglichkeit geboten worden wäre. Jetzt blieb ihnen nichts übrig, als die Sache am Fernsehschirm zu verfolgen, mit den Zähnen zu knirschen und sich einzubilden, daß sie für diesen Job weit besser gewesen wären. Vielleicht hatten sie sogar recht, aber es blieb eben keine andere Wahl. Die unerbittlichen Gesetze der Himmelsmechanik hatten entschieden, daß die Endeavour das erste und letzte Raumschiff der Menschheit war, das je in Kontakt mit Rama kommen würde.
Die Hilfe, die Norton unablässig von der Kontrollstation auf der Erde empfing, trug wenig dazu bei, ihm die Bürde seiner Verantwortung zu erleichtern. Wo es um Entscheidungen in Bruchteilen von Sekunden ging, konnte ihm niemand helfen. Die Zeitdifferenz zwischen der Kontrollbasis und seinem Schiff betrug per Radio bereits zehn Minuten, und sie erhöhte sich von Relais zu Relais entsprechend.
Oft beneidete er die großen Navigatoren der Vergangenheit, die in einer präelektronischen Zeit gelebt hatten und ihre versiegelten Befehle ohne die ständige Einmischung des Hauptquartiers interpretieren konnten. Wenn die einen Fehler gemacht hatten, erfuhr kein Mensch je davon.
Gleichzeitig war er jedoch ganz froh darüber, daß manche Entscheidungen an die Kontrollstation auf der Erde verwiesen werden konnten.
Nun, nachdem die Endeavour dieselbe Bahn hatte wie Rama, flogen sie auf die Sonne zu, als wären sie eine einzige Masse. In vierzig Tagen würden sie das Perihelion erreichen und weniger als zwanzig Millionen Kilometer entfernt um die Sonne herumfliegen. Das war bei weitem zu nahe, um angenehm zu sein.
Die Endeavour würde längst vorher den noch vorhandenen Treibstoff einsetzen müssen, um sich auf eine weniger gefährliche Bahn zu katapultieren.
Es standen ihnen also etwa drei Wochen für die Exploration Ramas zur Verfügung, ehe sie sich von dem Objekt endgültig trennen mußten.
Danach würde die Erde sich mit dem Problem herumschlagen müssen. Die Endeavour raste dann praktisch hilflos auf einer Bahn dahin, auf der sie als erstes Raumschiff der Erde die Sterne erreichen konnte — in zirka fünfzigtausend Jahren. Es besteht kein Grund zur Besorgnis, hatte die Kontrollführung vom ›Projekt Rama‹ versichert. Irgendwie würde man die Endeavour ohne Rücksicht auf die Kosten wieder auftanken — selbst wenn man Tanker hinter ihr herschicken und sie im Weltraum preisgeben müßte, nachdem sie ihr letztes Gramm Treibstoff abgegeben hätten. Rama rechtfertigte jegliches Risiko, außer einem Himmelfahrtskommando.
Und selbstverständlich lag sogar dies im Bereich der Möglichkeiten. In dieser Hinsicht gab sich Commander Norton keinen Illusionen hin. Seit Hunderten von Jahren war nun zum erstenmal ein völlig unkalkulierbares Element in den menschlichen Bereich eingedrungen.
Und Ungewißheit war etwas, das weder Wissenschaftler noch Politiker ertragen konnten.
Und natürlich würde man ohne Zögern die Endeavour und ihre Mannschaft opfern, falls dies nötig wäre, diese Ungewißheit zu beseitigen.
Rama war so still wie ein Grab — und das war er vielleicht auch. Auf keiner Frequenz gab es Radiosignale. Keine Vibrationen, die die Seismographen auffangen konnten, außer Mikroerschütterungen, die zweifellos durch die zunehmende Sonnenhitze verursacht wurden. Keine elektrischen Ströme, keinerlei Radioaktivität.
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