„Es liegt wohl ein geheimer Fluch über allen Konstruktionsvorhaben, die doch nur das Gute und das Universelle Glück zum Ziel haben“, dachte er, „kaum habe ich meine vorbereitenden Versuche gestartet, da sehe ich mich auch schon gezwungen, zu faulen und gemeinen Tricks zu greifen, die mir anschließend Gewissensbisse verursachen! Zum Teufel mit dem Kontemplator und seiner Prästabilisierten-Harmonie! Ich muß die Sache ganz anders anfassen…“
Bisher hatte er einen Prototyp nach dem anderen ausprobiert, folglich hatte jeder einzelne Versuch Unmengen an Zeit und Material verschlungen. Jetzt faßte er den Entschluß, tausend Experimente auf einmal zu starten — im Maßstab 1:1 000 000. Unter dem Elektronenmikroskop drehte er einzelne Atome so geschickt ineinander, daß aus ihnen winzige Wesen entstanden, die kaum größer als Mikroben varen, und nannte sie Ångströmianer. Eine Viertelmillion solcher Individuen bildeten eine Kultur, die per Mikropipette auf einen Objektträger praktiziert wurde. Jedes dieser Mikrozivilisationspräparate erschien vor dem bloßen Auge als winziges olivgrünes Fleckchen, und nur bei allerstärkster Vergrößerung ließ sich beobachten, was in seinem Inneren vor sich ging.
All seine Ångströmianer versah Trurl mit Reglern der erfolgreichen Altru-Hero-Optimismus-Serie, elektronischen Aggressionshemmern, dem kategorischen und elektronischen Imperativ zugleich, Wohltätigkeitsstimuli von unerhörter Stärke sowie einem Mikrorationalisator mit automatischen Sperren sowohl gegen Orthodoxie als auch Häresie, damit von vornherein keinerlei Fanatismus aufkommen konnte. Die Kulturen brachte er Tröpfchen für Tröpfchen auf Objektträger, packte die Träger zu kleinen Päckchen, die Päckchen zu Paketen, schob das Ganze in den Zivilisator-Inkubator und schloß es dort für zweieinhalb Tage ein. Vorher hatte er über jede Zivilisation ein Deckglas gestülpt, es sorgfältig gereinigt und mit blaßblauer Farbe überzogen, denn es sollte der jeweiligen Zivilisation als Himmel dienen; durch eine Tropfdüse versorgte er sie mit Nahrungsmitteln, aber auch mit Rohstoffen, damit sie fabrizieren konnten, was immer der consensus omnium für ratsam und erforderlich halten sollte. Natürlich konnte er die stürmische Entwicklung der Zivilisationen nicht auf allen Objektträgern zugleich verfolgen, so nahm er aufs Geratewohl einzelne Kulturen heraus, hauchte das Okular an, rieb es mit einem Läppchen sauber, beugte sich mit angehaltenem Atem über das Mikroskop und beobachtete das geschäftige Treiben tief unter sich, ganz wie der Herrgott im Himmel droben, wenn er die Wolken zur Seite schiebt, um einmal auf Sein Werk hinunterzuschauen.
Dreihundert Präparate nahmen sehr rasch ein schlechtes Ende. Die Symptome waren immer die gleichen. Zunächst einmal gedieh die Zivilisation prächtig und brachte sogar winzige Ableger hervor, dann lag plötzlich ein dünner Rauchschleier wie Nebel über allem, mikroskopisch kleine Blitze zuckten auf und bedeckten Mikrostädte und Mikrofelder mit einem phosphoreszierenden Ausschlag, danach zerfiel das Ganze mit schwachem Knistern und Zischen zu feinem Staub. Mit Hilfe eines achthundertfach stärkeren Okulars untersuchte Trurl eines dieser Präparate genauer, fand aber nur noch verkohlte Ruinen und rauchende Trümmer vor sowie halbverbrannte Fahnen und Feldzeichen, deren Aufschriften jedoch so winzig waren, daß er sie nicht entziffern konnte. Sämtliche Präparate dieses Typs wanderten unverzüglich in den Mülleimer. Zum Glück sah es jedoch nicht überall so schlecht aus. Hunderte von Kulturen machten gute Fortschritte und wuchsen so schnell, daß ihnen ein Objektträger nicht mehr genug Lebensraum bot und sie auf mehrere verteilt werden mußten. So war Trurl bereits nach drei Wochen heimlicher Herrscher über mehr als 19000 prosperierende Zivilisationen.
Einer Eingebung folgend, die er in aller Bescheidenheit für genial hielt, unternahm Trurl von sich aus nichts, um seinen Ångströmianern den Weg zum universellen Glück zu ebnen, sondern beschränkte sich darauf, ihnen einen gesunden Hedotropismus einzuimpfen, wobei er unterschiedliche Techniken anwendete. In einigen Versuchsreihen wurde jeder Ångströmianer mit einem kompletten Glücksbeschleuniger ausgerüstet, in anderen jedoch erhielt das Individuum nur ein einziges Bauteil dieses Geräts — in diesem Falle bedurfte der Marsch ins Glück kollektiver Anstrengungen im Rahmen einer entsprechenden Organisation. Die nach Methode I konstruierten Ångströmianer entwickelten sich zu vergnügungssüchtigen Egozentrikern, die in ihrem Streben nach persönlichem Glück weder Maß noch Ziel kannten und schließlich in hoffnungsloser Anhedonie endeten. Methode II erwies sich als fruchtbarer. Blühende Zivilisationen entstanden auf den Objektträgern, entwickelten soziale Theorien und Techniken sowie eine bunte Vielfalt kultureller Institutionen. Im Präparat Nr.1376 herrschte die Emulator-Kultur, Nr.9931 pflegte den Kaskadeur-Kult, und Nr.95 hatte sich der Fraktionierten Hedonistik im Schoße der Leitermetaphysik verschrieben. Die Emulaten wetteiferten im Streben nach vollkommener Tugend miteinander und teilten sich in zwei Lager — die Whigs und die Huris. Die Huris waren der festen Überzeugung, nur der könne die Tugend kennen, der sich zuvor eine gründliche Kenntnis des Lasters erworben habe und somit das eine vom anderen fein säuberlich zu unterscheiden wisse; folglich praktizierten sie alle denkbaren Spielarten des Lasters, allerdings nicht ohne die feierlich bekundete Absicht, ihre Untugenden zu gegebener Zeit sämtlich wieder abzulegen. Aus einem kurzen Praktikum war jedoch längst eine Lehrzeit ohne Ende geworden — zumindest behaupteten dies die Whigs. Nach ihrem endgültigen Sieg über die Huris führten sie den Whiggismus ein, eine moralische Doktrin, die sich aus 64000 äußerst rigorosen und kategorischen Verboten zusammensetzte. Unter ihrer Herrschaft durfte man weder demonstrieren noch provozieren, weder kritisieren noch opponieren, nicht an Ecken stehen, keinen Joint drehen, nicht flanieren, nicht hausieren, nicht schmatzen und nicht kratzen; natürlich stießen diese strikten Verbote auf heftige Proteste und mußten eins nach dem anderen wieder aufgehoben werden, jedesmal unter stürmischem Jubel der begeisterten Öffentlichkeit. Als Trurl kurze Zeit später wieder einen Blick auf das Präparat warf, war er sehr beunruhigt: Dort rannte alles wie im Tollhaus durcheinander, jedermann suchte hektisch nach einem Verbot, das es noch zu übertreten galt, mußte aber mit Schrecken feststellen, daß keines mehr übrig war. Einige wenige demonstrierten und provozierten noch, standen an Ecken herum, drehten ihren Joint, kratzten sich und schmatzen, aber Spaß daran hatte schon längst niemand mehr.
Und so schrieb Trurl zu seinen Labornotizen folgende Bemerkung: Wer alles darf, ist bald auf nichts mehr scharf. Im Präparat Nr.2921 lebten die Kaskadier, ein rechtschaffenes Völkchen voller Ideale, verkörpert in so vollkommenen Wesen wie der Magna Mater Cascadera, der Allerreinsten Jungfrau und dem Seligen Fenestron. Diesen errichteten sie Bildnisse und Statuen, beteten zu ihnen, verehrten sie im frommen Singsang endloser Prozessionen und warfen sich vor ihnen an besonderen Stätten, zu besonderen Zeiten, auf besondere Weise in den Staub. Gerade als Trurl über diesen unerhörten Gipfel an Frömmigkeit, Demut und Hingabe ins Staunen geriet, standen sie plötzlich auf, klopften sich den Staub aus den Kleidern und setzten zum Sturm auf Tempel und Statuen an. Sie stießen den Seligen Fenestron vom Sockel, entehrten die Allerreinste Jungfrau und trampelten auf der Magna Mater herum, daß dem Konstrukteur, der alles durchs Mikroskop mitansehen mußte, die Haare zu Berge standen. Aber gerade durch die lustvolle Zerstörung all dessen, was sie bisher so hoch verehrt hatten, fühlten sieh die Kaskadier derart erleichtert, daß sie — zumindest vorübergehend — vollkommen glücklich waren. Es hatte ganz den Anschein, als drohe ihnen das Schicksal der Emulaten, doch die umsichtigen Kaskadier hatten beizeiten Sakramentenkongregationen und Institute zur Planung Verbindlicher Offenbarungen eingerichtet, so daß die nächste Stufe der Heiligenverehrung bereits gründlich vorbereitet war. Es dauerte nicht lange, da begannen sieh die verwaisten Sockel und Altäre wieder mit neuen Statuen zu bevölkern — ein Vorgang, der das ewige Auf und Ab ihrer Kultur deutlich machte. Trurl notierte sich, daß die Erniedrigung des Allerhöchsten zuweilen mit einem Hochgefühl verbunden sein kann und bezeichnete die Kaskadier in seinen Aufzeichnungen als chronische Ikonoklasten.
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