Langner blieb immer derselbe — man konnte einen Tag oder ein Jahr mit ihm verbringen, ohne daß er sich änderte. Er arbeitete gern und regelmäßig. Niemals zeigte er Hast. Er hatte keine Laster und keine Schrullen. Wenn man gezwungen ist, mit einem Menschen längere Zeit auf engstem Raum zu leben, dann neigt man leicht dazu, sich über die geringste Kleinigkeit aufzuregen. Gereizt stellt man fest, daß der andere sich viel zu lange unter der Dusche aufhält, daß er sich weigert, Büchsen mit Spinat zu öffnen, weil er keinen Spinat verträgt, daß er sich nicht regelmäßig rasiert und mit seinen Bartstoppeln ungepflegt aussieht oder daß er sich viel zu oft rasiert und dauernd vor dem Spiegel Grimassen schneidet Langner aber bot ihm keinen Anlaß. Er aß alles — wenn auch ohne besonderen Appetit —, er hatte keine Launen, und er wusch ab, wenn es notwendig war. Über seine Arbeit verlor er kein Wort, aber wenn Pirx ihm Fragen stellte, antwortete er bereitwillig. Er mied Pirx nicht, drängte sich ihm aber auch nicht auf. Und eben diese Neutralität hätte Pirx vielleicht geärgert, zuma Langner gar nicht mehr so heldenhaft wirkte wie am ersten Abend. An diesem ersten Abend hatte Pirx ihn bewundert — im Grunde nicht wegen des „Heldentums“, sondern wegen der stoischen Ruhe des Wissenschaftlers.
Dieser erste Eindruck hatte sich jedoch verflüchtigt. Pirx sah in Langner, dessen Gesellschaft ihm aufgezwungen war, lediglich einen eintönigen Menschen, obwohl er nicht sagen konnte, daß dieser Mensch ihn langweilte. Er, Pirx, hatte vorläufig mehr als genug zu tun, er hatte eine Beschäftigung, die ihn völlig in Anspruch nahm. Nun, da er die Station und ihre Umgebung kannte, ging er nämlich noch einmal daran, alle Dokumente über den Unfall zu studieren.
Die Katastrophe hatte sich vier Monate nach Inbetriebnahme der Station ereignet. Entgegen allen Erwartungen war sie nicht im Morgengrauen oder in der Dämmerung vor Beginn der Mondnacht eingetreten, sondern mittags. Drei Viertel der überhängenden Platte des Adlerflügels stürzten ohne vorherige Anzeichen ein. Vier Männer waren Augenzeugen des Unglücks; sie hatten in der Station auf eine Nachschubkolonne gewartet.
Spätere Untersuchungen ergaben, daß die tiefen Einschnitte im Adlerflügel den kristallenen Gesteinsboden beschädigt und sein telefonisches Gleichgewicht gestört hatten. Die Engländer schoben die Schuld den Kanadiern zu, die Kanadier den Engländern. Die Loyalität der Partner des Britischen Commonwealth kam darin zum Ausdruck, daß beide Seiten geflissentlich die Warnungen Professor Animzews verschwiegen. Aber wie es sich auch verhielt — die Folgen der Katastrophe waren tragisch. Die vier Männer in der Station waren kaum eine Meile vom Schauplatz des Unglücks entfernt. Sie sahen, wie sich die blendend weiße Wand teilte, wie das ganze System der Keile und Lawinenschutzmauern barst, wie der Weg und die ihn stützende Formation fortgetragen wurden und ins Tal sanken. Das Tal glich über dreißig Stunden lang einem brodelnden Meer — innerhalb weniger Minuten hatte das in Aufruhr geratene Geröll die gegenüberliegende Wand des Kraters erreicht.
Im Bereich der Zerstörung hielten sich zwei Transporter auf. Einer der beiden wurde augenblicklich von einer zehn Meter dicken Geröllschicht begraben — man fand nie wieder eine Spur von ihm. Der zweite versuchte zu entkommen. Er befand sich bereits am oberen Wegabschnitt, also außerhalb des Lawinenstroms, aber ein gewaltiger Quader übersprang die Reste der Schutzmauer und fegte ihn in den dreißig Meter tiefen Abgrund. Der Fahrer öffnete im letzten Augenblick die Luke und sprang in das tobende Geröll. Er allein überlebte — aber er überlebte seine Gefährten nur um wenige Stunden, und diese Stunden wurden für alle anderen zur Hölle. Jener Mann, ein kanadischer Franzose namens Roget, blieb bei vollem Bewußtsein und rief aus dem Innern der weißen Wolke, die den ganzen Boden des Kraters bedeckte, um Hilfe. Sein Funkempfänger war beschädigt, doch der Sender funktionierte. Es war nicht möglich, ihn zu finden. Die Funkwellen brachen sich an den Felsblöcken und wurden mehrfach reflektiert. Die Blöcke hatten die Größe von mehrgeschossigen Häusern — die Menschen bewegten sich in dem Labyrinth, in dem die weiße Staubmilch brodelte, wie in den Ruinen einer Stadt. Alle Versuche, den Verunglückten anzupeilen, führten in die Irre. Durch den starken Eisensulfidgehalt des Gesteins war Radar wirkungslos. Nach einer Stunde, als am Sonnentor ein zweiter Steinfall niederging, wurde die Rettungsaktion abgebrochen. Die zweite Lawine war nicht groß, aber man befürchtete, daß sie weitere Einbrüche ankündigte. Man wartete also. Rogets Stimme war noch immer zu hören, besonders deutlich war sie auf der Station zu vernehmen. Der steinerne Kessel, in dem Roget stak, wirkte wie ein Reflektor. Nach drei Stunden kam Hilfe von der Ziolkowski-Station. Die Männer benutzten Raupenschlepper, doch die richteten sich auf dem lockeren Hang steil auf und drohten umzukippen — infolge geringerer Schwere ist der Neigungswinkel der Geröllhalden auf dem Mond größer als auf der Erde. Die Rettungsmannschaften wurden dorthin beordert, wo die Raupenfahrzeuge nicht weiterkamen. Sie durchkämmten dreimal das Gelände der Einsturzstelle. Einer der Männer stürzte in einen Spalt, und nur durch den sofortigen Transport zur Ziolkowski-Station und unverzügliche ärztliche Behandlung gelang es, ihn zu retten. Niemand zog sich zurück, denn man hörte noch immer Rogets Stimme, die allmählich schwächer wurde.
Roget verstummte erst fünf Stunden nach dem Unfall, aber auch als er schwieg, wußte man, daß er noch lebte. Jeder Skaphander hatte außer dem Sprechfunk einen automatischen Miniatursender, der mit dem Sauerstoffgerät verbunden war. Jeder Atemzug wurde durch elektromagnetische Wellen übermittelt und von einem besonderen Gerät auf der Station registriert — einem magnetischen Auge, das sich wie ein grün leuchtender Schmetterling ausbreitete oder zusammenzog. Diese phosphoreszierende Bewegung zeigte an, daß Roget zwar bewußtlos war, aber noch immer lebte. Das Pulsieren wurde schwächer und schwächer. Keiner der Männer konnte die Station verlassen. Man saß, eng aneinandergedrängt, und wartete auf den Tod des Unglücklichen.
Roget atmete noch zwei Stunden. Dann flackerte das grüne Licht im magischen Auge, schrumpfte zusammen und verharrte. Die Leiche fand man erst dreißig Stunden später, sie war zu Stein erstarrt. Der Leib war so zerfetzt, daß man nicht einmal den Skaphander öffnete. Man begrub den Toten in diesem halbzerdrückten metallischen Futteral wie in einem Sarg.
Später wurde ein neuer Weg angelegt; es war der Felspfad, den Pirx und Langner gegangen waren. Die Kanadier bereiteten sich darauf vor, die Station zu verlassen — aber ihre hartnäckigen englischen Kollegen lösten das Problem der Nachschublieferung auf eine Weise, wie sie zum erstenmal projektiert worden war, als man sich anschickte, den Mount Everest zu bezwingen. Sie wurde damals als irreal abgelehnt, aber nun, auf dem Mond, erwies sie sich als real.
Die Nachricht von der Katastrophe lief in unzähligen, oft widersprüchlichen Versionen um die Erde. Schließlich legte sich der Lärm, und die Tragödie ging in die Annalen der Mond-Eroberung ein. Auf der Station wechselten die diensthabenden Astrophysiker einander ab. Sechs Mondtage und Mondnächte vergingen, und es schien, daß der schwergeprüfte Ort keine Sensation mehr hergeben würde. Eines Tages, im Morgengrauen, stellte man in der Ziolkowski-Station fest, daß auf Mendelejew niemand antwortete. Auch diesmal rückte ein Trupp aus, um das unbegreifliche Schweigen zu ergründen. Die Männer landeten mit einer Rakete zu Füßen des Lawinengeländes am Adlerflügel.
Als sie die Kuppel erreichten, war der Krater noch in völlige Finsternis gehüllt. Lediglich unter dem Gipfel sprühte der stählerne Bau im Licht der fast waagerechten Sonnenstrahlen. Die Ausgangsklappe war weit geöffnet. Darunter, zu Füßen der Leiter, lag Savage — in einer Haltung, als sei er von den Sprossen geglitten. Er war erstickt. Das Panzerglas seines Helms war geborsten. Später entdeckte man an der Innenfläche seiner Handschuhe winzige Spuren von Gesteinsstaub. Man entnahm daraus, daß er gerade von einer Kletterpartie zurückgekehrt war, aber man wußte es nicht genau — die Spuren konnten auch älter sein. Den zweiten Kanadier, Challiers, fand man erst nach einer systematischen Durchsuchung aller umliegenden Steige und Rinnen. Die Rettungsmannschaft, die sich abgeseilt hatte — die Seile waren dreihundert Meter lang —, förderte die Leiche am Sonnentor zutage. Sie lag etwa fünfzig Schritt von der Stelle entfernt, an der Roget umgekommen war.
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