»Jetzt?«
»Worauf wollen Sie warten?«
»Aber ich kann nicht um sechzehn Uhr dreißig am Nachmittag einschlafen —«
Dann sah er belemmert drein. Haber hatte in einer übervollen Schublade seines Schreibtischs gekramt und brachte jetzt ein Formular zum Vorschein, das Formular »Einverständniserklärung zur Hypnose«, wie es das Gesundheitsamt vorschrieb. Orr nahm den Kugelschreiber, den Haber ihm reichte, unterschrieb das Formular und legte es ergeben auf den Schreibtisch.
»Wunderbar. Gut. Jetzt verraten Sie mir noch eines, George. Benutzte Ihr Zahnarzt ein Hypnoseband oder machte er es eigenhändig?«
»Band. Ich habe Stufe drei auf der Empfänglichkeitsskala.«
»Genau in der Mitte der Kurve, hm? Also, für die Suggestion eines Trauminhalts, der gut funktioniert, brauche ich eine ziemliche tiefe Trance. Wir wollen schließlich keinen Trancetraum, sondern einen echten Schlaftraum; der Verstärker sorgt dafür, aber wir wollen gewährleisten, daß die Suggestion ziemlich tief geht. Um zu vermeiden, daß wir Stunden damit vergeuden, Sie für die tiefe Trance zu konditionieren, greifen wir auf die Pressurmethode zurück. Schon mal gesehen, wie die funktioniert?«
Orr schüttelte den Kopf. Er sah ängstlich drein, widersprach jedoch nicht. Er hatte eine ergebene, passive Haltung, die feminin, fast schon kindlich wirkte. Haber entdeckte eine beschützende/unterdrückende Reaktion auf diesen körperlich schmächtigen und fügsamen Mann in sich. Es war so einfach, ihn zu beeinflussen, zu beherrschen, daß der Wunsch dazu fast übermächtig wurde.
»Ich wende sie bei den meisten Patienten an. Sie ist schnell, sicher und gefahrlos — und eindeutig die beste Methode, um Hypnose zu induzieren, und sie bereitet dem Hypnotiseur wie dem Subjekt gleichzeitig am wenigsten Probleme.« Orr hatte ganz bestimmt das eine oder andere Ammenmärchen über Subjekte gehört, die aufgrund von zu langer oder unsachgemäßer Anwendung der Pressurmethode Hirnschäden davongetragen hatten, und auch wenn diese Gefahr hier nicht bestand, mußte Haber doch entsprechend reagieren und beruhigen, damit Orr sich nicht gegen die Pressur wehrte. Darum plauderte er unbekümmert weiter, beschrieb die fünfzigjährige Geschichte der Pressurmethode, schweifte ganz von der Hypnose ab und kam wieder auf den Themenkomplex Schlaf und Träume zurück, um Orrs Aufmerksamkeit vom Induktionsprozeß an sich weg und zu dessen eigentlichen Zielen hin zu lenken. »Das Hindernis, das wir überwinden müssen, ist die Kluft, die zwischen dem Wachzustand oder Hypnosetrancezustand und dem Traumstadium existiert. Diese Kluft hat einen gebräuchlichen Namen: Schlaf. Orthodoxer Schlaf, SEM-Schlaf, wie Sie wollen. Es existieren, vereinfacht ausgedrückt, vier geistige Stadien, die für uns relevant sind: Wachzustand, Trance, orthodoxer Schlaf und paradoxer Schlaf. Wenn man Geistesvorgänge betrachtet, haben orthodoxer Schlaf, paradoxer Schlaf und Trancestadium etwas gemeinsam: Schlaf, Traum und Trance setzen allesamt die Aktivität des Unterbewußtseins, des unbewußten Verstandes, frei; sie greifen auf primäre Denkprozesse zurück, wohingegen es sich bei wachen Geistesvorgängen um sekundäre Prozesse — rationale — handelt. Aber betrachten wir einmal die EEG-Aufzeichnungen der vier Stadien. Jetzt haben der paradoxe Schlaf, die Trance und der Wachzustand viel gemeinsam, während der orthodoxe — gewöhnliche — Schlaf vollkommen anders ist. Und man kann nicht direkt von einer Trance in das echte Träumen des REM-Stadiums überwechseln. Das SEM-Stadium muß dazwischenliegen. Normalerweise erlebt man den paradoxen Schlaf vier- oder fünfmal in einer Nacht, etwa alle ein oder zwei Stunden und auch jeweils nur eine Viertelstunde am Stück. Die restliche Zeit befindet man sich im einen oder anderen Stadium des orthodoxen Schlafs. Auch da träumt man, aber normalerweise nicht lebhaft; Geistesvorgänge im orthodoxen Schlaf erinnern an einen Motor im Leerlauf, eine Art von konstantem Murmeln von Bildern und Gedanken. Wir haben es jedoch auf die lebhaften, emotionsgeladenen, einprägsamen Träume des paradoxen Schlafs abgesehen. Unsere Hypnose und der Verstärker werden gewährleisten, daß wir sie bekommen, daß wir die neurophysiologische und zeitliche Kluft des Schlafs überwinden und direkt zu den Träumen vorstoßen. Darum müssen Sie auf dieser Couch hier Platz nehmen. Die Pioniere meines Fachgebiets waren Dement, Aserinsky, Berger, Oswald, Hartmann und alle anderen, aber die Couch haben wir direkt von Papa Freud übernommen … Nur benutzen wir sie zum Schlafen, wogegen er Vorbehalte hatte. Also für den Anfang möchte ich, daß Sie sich hier an das Fußende der Couch setzen. Ja, genau so. Sie werden eine Weile hier verbringen, also machen Sie es sich so bequem wie möglich. Sie sagten, Sie haben es schon mit Selbsthypnose versucht, nicht? Also gut, dann wenden Sie getrost die Techniken an, die Sie dafür benutzt haben. Wie sieht es mit tief Durchatmen aus? Zählen Sie beim Einatmen bis zehn, halten Sie den Atem fünf Sekunden an; ja, genau so, ausgezeichnet. Sehen Sie jetzt bitte zur Decke hinauf und überstrecken Sie den Kopf dabei. Okay, gut so.«
Während Orr gehorsam den Kopf zurücklegte, streckte Haber, der dicht neben ihm stand, rasch und lautlos die linke Hand hinter den Kopf des Mannes aus und drückte mit Daumen und einem Finger fest hinter jedes Ohr; gleichzeitig drückte er mit dem rechten Daumen und Finger fest auf die dargebotene Kehle, dicht unter dem blonden Bart, wo Vagusnerv und Halsschlagader verlaufen. Er spürte die zarte, glatte Haut unter den Fingern; er spürte die erste erschrockene Bewegung des Widerstands, dann sah er, wie die klaren Augen zufielen. Er verspürte den Nervenkitzel der Freude über seine eigene Kunstfertigkeit, seine sofortige Dominanz über den Patienten, während er gleichzeitig leise und schnell murmelte: »Sie werden jetzt einschlafen; schließen Sie die Augen, schlafen Sie, entspannen Sie sich, machen Sie Ihren Verstand leer; Sie werden einschlafen, Sie sind entspannt, Sie werden ganz schlaff; entspannen Sie sich, lassen Sie los —«
Und Orr fiel nach hinten auf die Couch, als wäre er erschossen worden; die rechte Hand hing schlaff an seiner Seite herunter.
Haber kniete sofort neben ihm nieder, ließ die rechte Hand leicht auf den Druckpunkten und machte keine Pause in dem leisen, raschen Schwall der Suggestion. »Sie sind jetzt in Trance, nicht im Schlaf, sondern tief in hypnotischer Trance, und Sie werden nicht daraus erwachen, bevor ich es Ihnen sage. Sie sind jetzt in Trance, und Sie gehen immer tiefer in diese Trance, aber Sie können immer noch meine Stimme hören und meinen Anweisungen folgen. Von nun an werden Sie jedesmal, wenn ich Sie einfach am Hals berühre wie jetzt, sofort in hypnotische Trance fallen.« Er wiederholte die Anweisungen und fuhr fort. »Wenn ich Ihnen jetzt sage, Sie sollen die Augen öffnen, werden Sie es tun und eine Kristallkugel vor sich schweben sehen. Ich möchte, daß Sie Ihre ganze Aufmerksamkeit darauf konzentrieren, und während Sie das machen, werden Sie immer tiefer in Trance sinken. Schlagen Sie jetzt die Augen auf, ja, gut, und sagen Sie mir, wenn Sie die Kristallkugel sehen.«
Die hellen Augen sahen mit einem jetzt seltsam verinnerlichten Blick an Haber vorbei ins Leere. »Jetzt«, sagte der hypnotisierte Mann sehr leise.
»Gut. Sehen Sie sie weiter an und atmen Sie ganz regelmäßig dabei; bald werden Sie in einer sehr tiefen Trance sein …«
Haber sah zur Uhr hinauf. Das Ganze hatte nur rund zwei Minuten gedauert. Gut; er vergeudete nicht gern Zeit für lange Wege, das Ziel war das entscheidende. Während Orr liegend seine imaginäre Kristallkugel betrachtete, stand Haber auf und setzte ihm die modifizierte Trancekappe auf, die er unablässig wegzog und wieder andrückte, um die winzigen Elektroden anzupassen und unter dem dichten hellbraunen Haar an der Kopfhaut zu befestigen. Er redete viel und leise, wiederholte die Suggestion und stellte zwischendurch unverblümte Fragen, damit Orr noch nicht in den Schlaf abglitt, sondern aufmerksam blieb. Als die Kappe sich an Ort und Stelle befand, schaltete er das EEG ein und beobachtete es eine Zeitlang, um sich zu vergegenwärtigen, wie Orrs Gehirn aussah.
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